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Behindertenrechtskonvention in Panama und anderen Ländern. Bericht von Th. Degener

Seit einigen Jahren bekommt EREPRO regelmäßig Berichte über die Arbeit des VN (Vereinte Nationen)-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (englisch – CRPD-Ausschuss) von Frau Prof. Dr. Degener, die selbst – ohne Arme – behindert ist. Sie engagiert sich (als einzige Frau in dem Ausschuss) besonders für die Rechte behinderter Frauen. In dem neuesten “Bericht aus Genf 14/2017 geht es um die sog. Staatenberichte zur UNBehindertenrechtskonvention der Länder Panama, Marokko, Montenegro, Lettland, Luxemburg und Großbritanien.
Diese UN Staatenberichte, angefertigt in einem langwierigen Verfahren mit vielen Beteiligten, rücken die Verhältnisse für behinderte Menschen in den jeweiligen Ländern oft erstmals ins Licht der Öffentlichkeit. Menschenrechtsverletzungen  gegenüber Menschen mit Behinderungen werden benannt und beanstandet. Die Auseinandersetzung darüber vermittelt ihre Ansprüche auf menschenwürdige Behandlung, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht. Die Realisierung der Verbesserungsvorschläge wird später ebenfalls überprüft.
Der deutsche Staatenbericht wurde schon 2015 verfasst und mit 62 Empfehlungen ziemlich kritisch beurteilt. (s. http://www.erepro.de/2015/06/05/staatenberichtsprufung-deutschlands-zur-umsetzung-der-un-behindertenrechtskonvention-un-brk-durch-die-vereinten-nationen-abschliesende-bemerkungen/
s. zur Umsetzung in Deutschland http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/die-umsetzung-der-un-brk-ist-laengst-nicht-abgeschlossen/

Die Lektüre dieses Berichtes von Frau Degener führt uns die Rechte behinderter Menschen noch einmal vor Augen. Es gibt einen link für alle Dokumente aus den einzelnen Länder, die natürlich sehr unterschiedlich mit beeinträchtigten Menschen umgehen.
Wir bringen hier eine Zusammenstellung einzelner Punkte aus dem neuesten Bericht für Leser, die nicht die Zeit haben, den ganzen Bericht zu lesen.

Zunächst einige Bemerkungen aus der 35. Sitzung des UN Menschenrechtsrats. Dort erklärte der “Sonderberichterstatter für den Genuss des Rechts auf den höchstmöglichen Standard an physischer und psychischer Gesundheit”, Danius Puras, das reduktionistische biomedizinische Verständnis psychischer Beeinträchtigungen habe weltweit zu Exklusion und Menschenrechts-verletzungen bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und psychosozialen Beeinträchtigungen geführt. Dank der UN BRK (Behindertenrechtskonvention, EREPRO) und der damit verbundenenen verstärkten Sammlung von Daten und dank einer engagierten Zivilgesellschaft sei es immerhin gelungen, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Puras forderte die Staaten auf sicherzustellen, dass Psychiatrienutzer* innen in Planung, Umsetzung und Evaluation von Diensten involviert werden, dass keine Ressourcen in stationäre Einrichtungen, sondern in gemeindenahe Dienste fließen, dass in psychosoziale Dienste so investiert wird, dass gemeindenahes und autonomes Leben möglich ist, sowie konkrete Maßnahmen zur Reduktion und Abschaffung von Zwangsbehandlungen zu ergreifen. Schließlich war es ein wichtiges Anliegen, die Staatenkonferenz darauf hinzuweisen, dass die Vereinten Nationen sich verstärkt für Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten und psychosozialen Beeinträchtigungen einsetzen müssen, indem sie entsprechende Standards entwickeln und umsetzen.
Mit großer Sorge beobachte der Ausschuss zudem den Entwurf für das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarats, das sogenannte Oviedo-Protokoll. “Mehrfach haben wir zwar darauf hingewiesen, dass der Entwurf den Allgemeinen Bemerkungen des Ausschusses zu Artikel 12 UN BRK widerspricht und auch den Richtlinien zur Umsetzung von Artikel 14 UN BRK”, so Theresia Degener. In diesen Dokumenten wie auch in der Rechtsprechung des Ausschusses wurden Standards gesetzt, die die Abschaffung des Systems der ersetzenden Entscheidungsfindung zugunsten der unterstützten Entscheidungsfindung fordern und Zwangsbehandlung und Zwangseinweisung in Widerspruch zur UN BRK sehen. Theresia Degener rief das OHCHR (Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte, EREPRO) und die Vereinten Nationen dazu auf, sich in diese Debatte einzumischen und zu engagieren.

Zum Staatenbericht Panama:
Im Dialog äußerte sich Theresia Degener besorgt, dass im Staatenbericht an vielen Stellen Prävention von Behinderung als Maßnahme zur Umsetzung der UN BRK genannt werde. Sie betonte, dass nicht Prävention, sondern die Rechte von Menschen mit Behinderungen Anliegen der Konvention seien (Art. 4 und 8 UNBRK). Sie wollte wissen, wie die Regierung diese stigmatisierende Politik erkläre und rechtfertige. Ähnlich besorgniserregend sei der Umstand, dass das medizinische Modell von Behinderung immer noch vorherrschend sei. So gebe es u.a. nach wie vor Spendenkampagnen, die auf Wohltätigkeit und Mitleid mit behinderten Menschen aufbauten. …
Im Zentrum stünden Barrierefreiheit und nichtdiskriminierende Sprache. Das Problem der Spendenkampagnen sei der Regierung wohl bewusst. Um es zu lösen, bat man den Ausschuss und die DPOs (Behindertenorganisationen, EREPRO) um technische Beratung. In ihren weiteren Fragen nahm Theresia Degener vor allem die Lage von Frauen und Mädchen mit Behinderungen in den Blick. In Bezug auf Art. 13 UN BRK (Recht auf Zugang zur Justiz) erkundigte sie sich, ob und wie Richter im menschenrechtlichen Modell von Behinderung geschult und welche Maßnahmen ergriffen würden, um insbesondere den behinderten Frauen Zugang zur Justiz zu ermöglichen. Außerdem merkte sie an, dass der Bericht wohl das Verbot von Zwangsbehandlung, Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisation etc. festhalte, aber keine Aussage über die Praxis, die tatsächliche Umsetzung des Verbots enthalte. Das Projekt Familia Impresa, so die Antwort der Delegation, führe ein breites Schulungsprogramm durch, das insbesondere Gewaltschutz von Frauen mit Behinderungen und die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Frauen und ihrer Kinder in den Blick nehme. … 4 Frauenhäuser seien eingerichtet und 17 Staatsanwälte für Gewalt gegen Frauen berufen worden.

Im Bericht aus Marokko … (wurde kritisiert, dass) im Rahmengesetz 97–13 aus 2016 die Rechte von Menschen mit Lernschwierigkeiten sowie von Frauen und Mädchen mit Behinderungen nicht berücksichtigt würden. Besorgniserregend sei in Bezug auf diese Personengruppe die mehrfache Diskriminierung und Gewalt, der sie ausgesetzt ist. Eine nationale Studie aus 2011 hatte gezeigt, dass mehr als 62 Prozent der behinderten Frauen in Marokko Opfer von Gewalt wurden. …
Dazu gehöre auch die Schließung von Heimen für behinderte Kinder. Theresia Degener wies darauf hin, dass im Bericht Fragen der Behinderung mit Fragen geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung vermischt würden, so würden lesbische, homosexuelle, bisexuelle, Transgender- und intersexuelle Personen als geistig krank behandelt. Mit Blick auf Art. 12 UN BRK betonte sie, dass ein Familiengesetz, das Menschen mit Lernschwierigkeiten die rechtliche Handlungsfähigkeit abspricht und sie unter Betreuung stellt, im Widerspruch zur UN BRK stehe. Sie fragte, ob die Regierung Marokkos dies ändern und das System der unterstützten Entscheidungsfindung einführen wolle.

Montengro. Mit Blick auf das Gesetz zum Schutz der Rechte von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen fragte sie (Degener, EREPRO), warum die Polizei in Montenegro Personen aufgrund eines Verdachts einer solchen Beeinträchtigung in Gewahrsam nehmen dürfe. …

Lage der Menschen mit Behinderungen in Lettland. … Erfolge der bewusstseinsbildenden Kampagne in 2011. Ein Viertel der Bevölkerung habe angegeben, infolge der Kampagne seine Meinung über Menschen mit Behinderungen geändert zu haben. Dennoch: Der “Löwenanteil” in der Umsetzung der Konvention bleibe Aufgabe für die Zukunft, … Mit DPOs sei an der Reform des bürgerlichen Rechts gearbeitet und die vollständige Einschränkung der rechtlichen Handlungsfähigkeit abgeschafft worden. Er empfahl der Regierung, einen Nationalen Aktionsplan und ein Rahmendokument für die Deinstitutionalisierung zu entwickeln. Weitere Herausforderungen seien das immer noch vorherrschende medizinische Verständnis von Behinderung und der damit verbundene defizitorientierte Blick auf Menschen mit Behinderungen. … Beunruhigend finde der Ausschuss auch die hohe Zahl an Todesfällen in Einrichtungen für Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen und Lernschwierigkeiten. Im Dialog stellte Theresia Degener fest, dass der Bericht nichts über Programme zur Förderung von Frauen mit Behinderungen sagt. … So gebe es noch 60 Sonderschulen in Lettland und der Bericht sage nichts über Pläne, diese zu schließen oder in inklusive Einrichtungen umzuwandeln. …

Der “Sonderbotschafter für Klimawandel und Menschenrechte des Außenministeriums”von Luxemburg, Marc Bichler, stellte den Bericht seines Landes vor. In den letzten 2 Jahren seien 5 Mio. Euro für selbstbestimmtes Leben und Inklusion investiert worden. Inklusion im Arbeitsmarkt habe dabei oberste Priorität. … Lobenswert hingegen fand Theresia Degener das erklärte Bestreben des Landes, bei der Reform des Betreuungsrechts die vollständige rechtliche Handlungsfähigkeit aller Menschen zu erhalten. Jedoch stehe die vorgeschlagene Reform nicht in Einklang mit der Konvention, die die Abschaffung der ersetzenden und die Einführung der unterstützten Entscheidungsfindung fordere. Zudem kritisierte sie, dass in den Reformprozess nur Jurist*innen involviert gewesen seien, aber keine Vertreter*innen von DPOs. … In Bezug auf Art. 19 UN BRK wies Theresia Degener darauf hin, dass auch das Leben in kleinen Wohngruppen immer noch ein Leben in einer Einrichtung bedeute und nicht gleichzusetzen sei mit einem individuellen, selbstbestimmten Leben. Von den Ausschussmitgliedern wurden Informationen gewünscht, wie die Gelder des Europäischen Sozialfonds (ESF) für Deinstitutionalisierung und gemeindenahe Assistenzdienste eingesetzt würden. …

Großbritannien … (Problem der) sozialen Kürzungen und deren teils katastrophalen Auswirkungen auf das Leben von Menschen mit Behinderungen. … (Man) beklagte, dass sich Dezentralisierung und Brexit negativ auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen auswirkten … neue Strategie der Regierung für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen. Es sei ein Beauftragter für  häusliche Gewalt eingesetzt worden, der darauf achten solle, dass auch lokal bedarfsgerechte Unterstützungsdienste verfügbar sind. … In Bezug auf Genitalverstümmelung, so die Delegation, gebe es eine Beschwerdestelle, die Anzeigen entgegennimmt und untersucht. Die Stelle diene auch der Vorbeugung, damit Kinder etwa zum Zweck eines Eingriffs nicht außer Landes gebracht werden können. Besorgt äußerte sich Theresia Degener zum Umgang mit Flüchtlingen mit Behinderungen. So seien bereits minderjährige Flüchtlinge abgewiesen worden, weil man mit ihnen nicht “umgehen” könne. … Abschließend forderte Theresia Degener die Regierung Großbritanniens auf, die Vorbehaltsklauseln gegen die Konvention (z.B. gegen Art. 24 UN BRK) aufzuheben. Das Land sehe sich gern in der Vorreiterrolle. Führend in der Umsetzung von Behindertenrechten zu sein, bedeute aber auch, Verantwortung zu übernehmen.

Mehr zum Thema bei EREPRO:

UN überprüft Selbstbestimmung – auch in der Psychiatrie


http://www.erepro.de/2015/05/04/staatenprufung-deutschland s-durch-un-behindertenausschuss-hat-stattgefunden/

„Psychosen: Inzidenz schwankt international sehr stark“

Den Hinweis auf den entsprechenden Artikel im Ärzteblatt vom 7.12.2017 bekamen wir von Dr. Jürgen Thorwart. (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/86905/Psychosen-Inzidenz-schwankt-international-sehr-stark)

Psychiater und Psychologen haben seit Jahrzehnten im Studium gelernt, dass Psychosen in allen Ländern etwa gleich häufig bei ca. einem Prozent der Bevölkerung auftreten. Wikipedia verkündet das auch, wenn auch etwas vorsichtiger: “Dabei scheint es zwischen verschiedenen Kulturen keine oder nur geringe Unterschiede in der Häufigkeit zu geben.” Diese “Erkenntnis” geht also nicht erst auf eine Studie der Weltgesundheits-Organisation von 1978 zurück, wie in dem Ärzteblatt-Artikel behauptet, sondern sie kursiert schon viel länger.
Wikipedia gibt für die Behauptung keine Quelle an. Andere Internetseiten zum Thema ebenfalls nicht:
http://www.psychose-psychotherapieforschung.de/ppp/?q=node/26, https://psylex.de/stoerung/psychose/haeufigkeit.html, http://psychiatriegespraech.de/psychische_krankheiten/schizophrenie/schizophrenie_epidemiologie/.
Letztere, d
ie Seite “Psychiatriegespräch”, spricht aber eine ernste Warnung aus hinsichtlich der “Fakten”:
“Achtung: Epidemiologische Daten in der Forschungsliteratur weisen oft erhebliche Schwankungen und Unterschiede auf. Dies liegt oft an unterschiedlichen Ein- und Ausschlusskriterien hinsichtlich Definition der Störung, Einbezug von Einzelphasen oder Gesamtverlauf, sämtlicher Manifestationen oder nur bestimmter Schweregrade etc.. Deshalb sind die nachfolgend genannten und aus der Fachliteratur zusammengestellten Zahlen und Daten zur Häufigkeit und Verteilung der Schizophrenie nur als grobe Anhaltspunkte zu werten und sind bei Bedarf persönlich durch eigene Beschäftigung mit der Literatur zu überprüfen!”
Diese Relativierung gilt auch für die im Artikel des Ärzteblatt beschriebene Untersuchung, die wir leider nicht selber nachlesen konnten, um eine fundierte Methodenkritik zu leisten.

Es geht dabei um eine Untersuchung des „European Network of National Schizophrenia Networks Studying Gene-Environment Interactions“ (EU-GEI).
“Ein Team um James Kirkbride vom University College London hat die Daten aus 17 Regionen in Großbritannien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien und Brasilien zusammengetragen. Darunter waren Großstädte wie Paris und London, aber auch ländliche Regionen wie Cuenca in Spanien oder Ribeirão Preto in Brasilien.” (Ärzteblatt).

Festgestellt wurden deutliche Unterschiede in der Inzidenz der ersten psychotischen Episode (FEP). Man fand Stadt-Land Unterschiede (in London erkranken mehr Personen als in Santiago de Compostela), und ein Nord-Süd-Gefälle (in Palermo, Barcelona und Madrid sind Psychosen seltener als im Marnetal südlich von Paris). Neben den geographischen – stellte man fest – spielen auch soziale Faktoren eine Rolle. Wohlstand habe möglicherweise eine schützende Funktion, während Single Haushalte für eine soziale Vereinsamung stehen, die das Erkrankungsrisiko erhöhe.
Ethnische Minderheiten, die sich als Außenseiter fühlen, sind der Studie zufolge ebenfalls besonders gefährdet an einer Psychose zu erkranken. “Es sei denn sie leben in Gegenden mit einer hohen ethnischen Durchmischung.” “Der kulturelle Austausch scheint eine gewisse protektive Wirkung gegen gewisse mentale Probleme zu haben, meint Kirkbride. Die Studie zeigt seiner Ansicht nach, dass Umweltfaktoren insgesamt eine größere Bedeutung für die Entstehung psychotischer Störungen haben als vielfach angenommen.” (Ärzteblatt)

Die Studie wurde veröffentlicht in JAMA Psychiatry (2017; doi: 10.1001/jamapsychiatry.2017.3554).

Zwei Seufzer

Diagnosen stehen an allen wichtigen Entscheidungspunkten  in unserem Gesundheitssystem. In der gültigen “Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme” (ICD 10) – entwickelt von der Weltgesundheitsorganisation – gibt es seit 1948 auch ein Kapitel über psychische Erkrankungen: Ohne spezifische Ursache werden hier Symptomkonstellationen (Syndrome) beschrieben, deren Ursachengefüge meist wenig aussagekräftig als “multifaktoriell” bezeichnet wird.

Das  Sozialgesetzbuch V (über Krankenversicherung) verpflichtet in Deutschland Vertragsärzte, Vertragspsychotherapeuten und Krankenhäuser zur Diagnoseverschlüsselung nach ICD 10.1

Bevor die ICD Klassifikation für psychische Störungen erarbeitet wurde, gab es nur Problembeschreibungen auf der Basis ganz unterschiedlicher Werte und Menschenbilder der jeweiligen Psychiater und Psychotherapeuten, die schwer vergleichbar waren. Insofern stellte ein Diagnoseinstrument wie ICD zweifellos in dieser Hinsicht einen Fortschritt dar.

Das ändert aber nichts daran, dass die Darstellung der Problematik eines Menschen ohne Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung und ihrer Dynamik die Hilfsmöglichkeiten einschränkt. Wobei diese statistische Klassifikation oft eine Differenziertheit und Genauigkeit der Erkenntnisse suggeriert, die der tatsächlichen Situation der hilfesuchenden Menschen nicht entspricht.

Auch wenn es utopisch erscheint, sich heute eine Psychiatrie ohne diese diagnostische Charakterisierung der Patienten vorzustellen, sollten wir die folgenden Seufzer eines Patienten und eines Mitarbeiters aus dem alltäglichen Psychiatriebetrieb über die Diagnosestellung nicht überhören. Sie müssen mit dieser Diagnostik leben, an die wir uns so gewöhnt haben.
Nicht jeder in der Psychiatrie wird diese Seufzer nachvollziehen können, sie beruhen aber alle auf nachgewiesenen Phänomenen.2

Zwei Seufzer über die Diagnostik in der Psychiatrie

Stell dir vor, du bist in der Psychiatrie, und es gibt keine Diagnosestellung mehr.
Ist dieser Spruch, der dem geflügelten Wort  “Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin” nachempfungen ist, ähnlich irreal wie dieser? Ja, das scheint so, aber – wie dieser Satz – kann er uns anregen, darüber nachzudenken, wie es vielleicht doch anders sein könnte …

 1  Als ich den Spruch hörte, war mein erster Gedanke, dann würde ich mir bei Gesprächsbedarf  in einer schwierigen Lebenssituation in einer psychiatrischen Einrichtung, die auf die routinemäßige Diagnosestellung verzichtet – einen interessierten, einfühlsamen Diskussionspartner suchen können, um meine Probleme zu besprechen…

… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass meine Problem-Erzählung in eine plakative, “einsilbige” Kategorie mit ihren unklaren sozialen und politischen Implikationen gepresst würde, was weitreichende Konsequenzen haben könnte – und mit meiner Angelegenheit wenig bis gar nichts mehr zu tun hätte.3
Bei einer gewissen Erleichterung endlich zu wissen, “was mit mir los ist” – könnte ich alle möglichen sachfremden Auswirkungen gar nicht überblicken.4

… weil ich dann weniger Gefahr laufen würde, dass mein Gesprächspartner in der Psychiatrie mir Entscheidungen abnehmen oder aufdrücken wollen würde.

… weil ich dann weniger Gefahr laufen würde, mit Erwartungen konfrontiert zu werden, die zu erfüllen sind, wenn ich als “psychisch gesund”  und “normal” gelten will, und bei mir nicht jeder Gag, Spaß und Blödsinn mit Argusaugen auf potentielle “Unvernunft” beäugt würde. Und weil auch ich selbst dann nicht mehr jedes Erleben darauf befragen müsste, ob es “normal” ist.5

… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass bei mir unerwünschte Entwicklungen eintreten im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung durch mir zugeschriebene “Symptome”, wie beispielsweise eine besondere Verletzlichkeit und Stressempfindlichkeit entsprechend der “Vulnerabilitätstheorie”.6

… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass meine Angehörigen und Freunde einen Schock bekämen durch das Diagnose-Etikett an meiner Stirn, und sich ihr Verhalten mir gegenüber ändert, so dass die Beziehung nur noch durch diesen Filter erlebt würde.

… weil ich dann nicht mehr mehr Gefahr laufen würde, dass meine Bezugspersonen im Wissen um meine Diagnose durch gelegentliches “ungewöhnliches” Verhalten von mir beunruhigt und verängstigt werden, und beginnen den Kontakt zu mir zu meiden, sondern – im Gegenteil – beruhigt sein könnten, weil sie im Gespräch mit meinem Therapeuten feststellen, dass er/sie mir (ohne Diagnose-Klischee im Kopf) respektvoll und auf Augenhöhe begegnet.

… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, aus dem weiteren Ablauf meines Lebens heraus zu fallen durch eine unverhältnismäßig lange Auszeit in einer psychiatrischen Klinik, wie bei bestimmten Diagnosen üblich. Und meine Arbeitsstelle nicht gefährdet wäre durch diese Art von “Hilfe”.

… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, wegen der Diagnose als “psychisch krank” bezeichnet zu werden – wenn nicht gar als “gefährlich”, und so zu einer randständigen gesellschaftlichen Gruppen gehören würde, was mich wahrscheinlich Ansehen bei meinen Mitmenschen kosten würde, und wohl im Laufe der Zeit einen sozialen Abstieg bedeutete.

… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass man eine “Prognose” erfände über meine zukünftige Entwicklung, obwohl niemand über prophetische Fähigkeiten verfügt.

…  weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass mir die zu der Diagnose “passenden” Medikamente verordnet würden.

… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, wegen der “Allmachtsvorstellung einer leidenslosen Gesellschaft”6 in der Psychiatrie meine “Symptome” nicht behalten zu dürfen, weil ich mich mit ihnen wohler fühle als in dem trostlosen Zustand nach Einnahme von Psychopharmaka. Denn welcher Psychiater macht sich schon die Mühe, die Medikation so niedrig wie möglich zu halten, und sie gemeinsam mit mir genau auf meine Person und meine wechselnden Zustände auszurichten.

… weil ich dann nicht mehr Gefahr laufen würde, dass ich mir am Ende sogar das schwer zu löschende Stigma “chronisch” einhandle – wenn sich mein Problem nicht in einer absehbaren Zeit erledigt, oder sich gar wiederholt – wegen dieser ausgeprägten “Fortschritts-Fixierung” in der Psychiatrie mit der möglichen Folge, dass ich  wegen dieser diagnostischen Einordnung die psychiatrischen “Retter” nie wieder los werde.

2 Als ich den Spruch hörte, war mein erster Gedanke, ich könnte dann als Mitarbeiter in einer psychiatrischen Einrichtung ohne Routine-Diagnosestellung bessere Arbeit leisten, z.B. leichter eine gute Beziehung aufbauen im Gespräch mit Menschen über ihre Anliegen…

… weil ich dann nicht gezwungen wäre, mich über meine Gesprächspartner*in zu stellen, indem ich sie/ ihn beurteile und über Persönlichkeit und Entwicklung entscheide in der üblichen “Oben-Unten-Beziehung” (Groth).

… weil ich dann weniger gezwungen wäre, mich bei solchen Gespächen an die Leitlinienn für bestimmte Diagnosen zu halten, die meine Unvoreingenommenheit erheblich einschränken, wenn sie beispielsweise ethnische Minderheiten per se als besondere Risikogruppe beschreiben.7

… weil ich dann weniger gezwungen wäre, besonders Berührendes im zwischenmenschlichen Gespräch in meinem Bericht weg zulassen, weil die Fragebögen in den Handbüchern das nicht vorsehen.

… weil ich dann nicht gezwungen wäre, während des Gespräches, beim Kennenlernen schon nach möglichen Symptomen zu fahnden, die in Diagnostik-Handbüchern  beschrieben sind, anstelle einer ergebnisoffenen Einstellung zu dem Patienten. Und durch die geforderte Differenzierung der Diagnose entsprechend der Checklisten, könnte ich meine Aufmerksamkeit nicht genügend auf die eigentliche Thematik des Gesprächspartners lenken.

… weil ich dann nicht gezwungen wäre, den Kennenlernprozess in die vorgegebene Richtung des Anamneseschemas zu lenken, wie die “psychopathologische Exploration” es vorsieht, sondern mehr der lebendigen Entwicklung des Gesprächsverlaufs folgen könnte.

… weil ich dann nicht gezwungen wäre, in offiziellen Verlautbarungen über meinen Gesprächspartner, der Hilfe sucht, Ungenauigkeiten, Missverständnisse und Einseitigkeiten in Kauf zu nehmen durch den Gebrauch von vorgeschriebenen Diagnosen-Klischees.8

… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre (wenn mir die offizielle Diagnose von Hilfesuchenden bekannt ist), gegen meine eigenen Erwartungen und Vorurteile über diese Menschen ankämpfen zu müssen, denn das erschwert natürlich eine gute Beziehung.

… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, aufklärende Anti-Stigma Arbeit zu leisten, die zum großen Teil erst durch das Diagnostizieren nötig wird.9

… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, immer wieder damit zu rechnen, dass die offiziellen Diagnosen sogar von Fachleuten wie unhinterfragbare, eindeutige Eigenschaften, die jemand “hat”,  behandelt werden.10

… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, Vorstellungen von “funktionieren” und angepasstem Verhalten11 entgegen meinen Überzeugungen als Maßstab für Normalität von meinem Gesprächspartner zu fordern, anstatt sein Schicksal akzeptieren zu dürfen.12

… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, die Ablehnung von Sozialleistungen für die Betroffenen (wie die Finanzierung von Ausbildungen, Beförderungen etc.) in Kauf zu nehmen, wenn ich konsequent keine Diagnosen stellen würde. Beispielsweise eröffnet eine Diagnose erst die Möglichkeit für eine kassenfinanzierte Psychotherapie.13

… weil ich dann nicht mehr gezwungen wäre, bestimmtem Verhalten einen Krankheitswert zuzuschreiben und Symptome zu benennen, die daraufhin Gegenstand von Veränderungs-Wünschen insbesondere der Psychotherapeuten werden könnten. Die würden sich dann auch weniger gezwungen fühlen, die persönlichen Entwicklungsprozesse und die Wünsche der Klienten zu übergehen, und könnten ihnen selbst die Frage überlassen, was sie ändern wollen, und wie viel Leiden ihnen selbst akzeptabel erscheint.14

… weil ich dann weniger gezwungen wäre die Psychiatrie als medizinisches Teilgebiet aufzufassen, sondern mich mit mehr Aussicht auf Erfolg dafür einsetzen könnte, dass sie eines Tages in erster Linie sozialwissenschaftlich begründet ist.15

 

Dieser kurze Beitrag ist keine grundlegende Erörterung des Themenkomplexes Diagnostik in Psychiatrie und klinischer Psychologie. Er will aber daran erinnern, welche Probleme mit der Diagnosestellung zwangsläufig verbunden sind – ob die Diagnose sich nun auf Selbstbeschreibungen bzw. Selbstbeurteilungen der Hilfesuchenden (wie beim Freiburger Persönlichkeitsinventar) oder auf Verhaltensbeobachtung (wie beim ICD) bezieht.
Auch wenn Diagnostik und Tests allen Regeln der Testkonstruktion entsprächen, die bei der Einordnung nach ICD oder DSM in der Praxis ohnehin sträflich vernachlässigt werden, ist die Kritik an der psychiatrischen Diagnostik auch von wissenschaftlicher Seite sehr deutlich vernehmbar.16

Die Seufzer derjenigen, die in der psychiatrischen Praxis mit dieser Diagnostik zu tun haben, die ihre Folgen und Wirkungen immer wieder erleben, dürfen nicht überhört oder vergessen werden, weil dadurch in der Psychiatrie doch sehr viel “Un-heil” angerichtet wird.

 

Anmerkungen:
1 Wikipedia https://de.m.wikipedia.org/wiki/Internationale_statistische_Klassifikation_der_Krankheiten_und_verwandter_Gesundheitsprobleme
http://www.icd-code.de/
2 Die Sendung Frontal 21 zeigte einige Beispiele : Fatale Falschdiagnose. Abgestempelt. 10.10.2017 (Viodeo verfügbar bis 10.10.2018) https://www.zdf.de/politik/frontal-21/frontal-21-vom-10-oktober-2017-100.html

3 Katja Diefenbach, Von Schrebers Seite. Die Schwierigkeit, die Vern1unft von der Unvernunft zu trennen. NDR, Kulturjournal Sonntag 21.06 1998
4 s. Anm. 2
s. Manfred Wiesner, Eugene Epstein & Lothar Duda, Wilhelmshaven: SPRACHEMACHTSINN – Die Krise der Psychotherapie und der Weg zu einer posttherapeutischen Zukunft. http://systemagazin.com/sprachemachtsinn-die-krise-der-
psychotherapie-und-der-weg-zu-einer-posttherapeutischen-zukunft
5 Henning Burk, Befreiung des Wahnsinns von der Knechtschaft der Normalität. Frankfurter Rundschau 18. September 2001

6 Karsten Groth, Die unendliche und die endliche Psychiatrie. Über den Umgang mit Chronizität, Zeit und Verantwortung und die Opfer alter und neuer Krankheitskonzepte. Soziale Psychiatrie, 4/2004 S. 2.
zur Vulnerabilität: DGPPN Leitlinie Schizophrenie, C. Kurzversion. S3_Schizo_Kurzversion-6.pdf
7 Zitat aus DGPPN Leitlinie Schizophrenie, C. Kurzversion: “Prognostische Faktoren, die den Verlauf der Schizophrenie ungünstig beeinflussen, sind eine familiäre Vorbelastung, d. h. psychische Erkrankungen in der Familie, männliches Geschlecht, eine lange Prodromalphase bzw. ein verzögerter Krankheitsbeginn, kognitive Dysfunktion, niedrige prämorbide Intelligenz (IQ) und Negativsymptomatik, eine schlechte prämorbide soziale Anpassung und eine fehlende stabile Partnerschaft, psychosozialer Stress und ein belastendes familiäres Klima (High-EE), Geburtskomplikationen sowie ethnischer Minderheitenstatus oder -ursprung.” S.186
8 Was heißt schon schizophren? FAZ vom 17.7.2017:  “Schizophrenie sei eigentlich nur ein Sammelbegriff für eine bunte Mixtur ganz verschiedene Syndrome, die in der Regel völlig verschiedene Ursachen hätten”, Ludger Tebartz van Elst, Freiburger Neuropsychiater.
s. auch Kellmann, M. Teilhabenichtse, Sozialpsychiatrische informationen 47. Jahrgang 4/2017, S. 44
s. auch Hubert, Martin Zudröhnen oder Ausschleichen.Die neuen Pfade der Psychiatrie. www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/dok5/download-psychiatire-psychopharmaka-100.html (abgerufen aam 10.10.2017).
s. Radiointerview mit Martin Zinkler, Oktober 2017, http://vielfalter.podspot.de/files/VielFalter-02-10-17.mp3
9 Jana Hauschildt,  Das Unbehagen bleibt. Millionen Euro werden in den vergangenen Jahren in Kampagnen gegen Stigmatisierung psychisch kranker Menschen investiert… SZ 8.4.2014
10 wie Beispielsweise im Interview Josef Bäuml  SZ vom 15.06 Juli 2017,
s. auch Markus Jäger, Diagnostik aus Sicht des Psychiaters – eine kritische Auseinandersetzung. Sozialpsychiatrische Informationen 4/2016, S. 9
11 Schlimme, Jan E., Birgit Hase, Amelie Palmer, Was sollen eigentlich Diagnosen? Nachteil und Nutzen eine Schizophrenie-Diagnose im Genesungsverlauf. Sozialpsychiatrische Informationen  4 /2016, S. 40
12  s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 16, 2017, S. 19 u.a.
s. auch Helmut Stolze, Grenzen des Heilens – heilende Grenzüberschreitungen. Gedanken aus der psychotherapeutischen Praxis. Prax Psychother und Psychosom 1989, 34:297 – 303
13  sChristian Weber, Irrsinn ist menschlich. SZ 22./23.Juni 2013
14  s. Fast ein Streitgespräch. Klaus Dörner trifft Peter Brieger. Sozialpsychiatrische Informationen 4/2016, S 12
15 Rechlin, J. Vliegen ,  2013, Die Psychiatrie in der Kritik: Die antipsychiatrische Szene und ihre Bedeutung für die klinische Psychiatrie heute. Umfassende – wenn auch nicht unbedingt posotive – Darstellung antipsychiatrischer Ansätze in der Psychiatrie.
16 Wikipedia, Testtheorie. https://de.wikipedia.org/wiki/Testtheorie_(Psychologie)
Wikipedia, Freiburger Persönlichkeitsinventar, https://de.wikipedia.org/wiki/Freiburger_Pers%C3%B6nlichkeitsinventar
s. TBS-TK Rezension: Freiburger Persönlichkeitsinventar Prof. Dr. Sonja Rohrmann, Goethe Universität Frankfurt am Main & Prof. Dr. Frank M. Spinath, Universität des Saarlandes
http://www.bdp-verband.de/psychologie/testrezensionen/FPI_R.pdf

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Zudröhnen oder Ausschleichen? Die neuen Pfade der Psychiatrie

Dr. phil. Dipl.-Psych. Jürgen Thorwart, Psychoanalytiker schreibt an EREPRO:
Liebe KollegInnen, das scheint mir ein interessanter Beitrag zu sein.
Herzliche Grüße

Jürgen

WDR 5 Dok 5 – Das Feature, 50:13 Min.

Zudröhnen oder Ausschleichen? Die neuen Pfade der Psychiatrie

Von Martin Hubert

Pharmafirmen versprachen psychische Krankheiten mit Medikamenten zu heilen – und sind gescheitert. Jetzt steigen sie aus der Forschung aus. Studien zeigen: frühzeitiges Ausschleichen der Psychopharmaka hilft Patienten besser, als sie langfristig einzunehmen. Die Psychiatrie auf neuen Wegen?

Ausstrahlung am 8. Oktober 2017, Wiederholung am 9. Oktober 2017
Von: Martin Hubert
Redaktion: Dorothea Runge
Produktion WDR 2017

Das Feature steht nach der Sendung befristet zum kostenlosen Download hier zur Verfügung:

www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/dok5/download-psychiatire-psychopharmaka-100.html

Zuerst erstellt der Psychiater eine Diagnose. Dann verordnet er Psychopharmaka, die den Geist herunter regulieren oder stimulieren. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass eine zusätzliche Psychotherapie sinnlos sei, wenn der Patient seine Medikamente nicht längerfristig einnimmt. Das ist Standard in der psychiatrischen Behandlung von Psychosen und anderen schweren psychischen Leiden.

Lange hat die Pharmaindustrie davon profitiert. Doch inzwischen nagen wissenschaftliche Studien am Fundament der Standardtherapie. Weil keine besseren chemischen Substanzen in Sicht sind, haben sich wichtige Pharmafirmen aus Forschung und Vermarktung verabschiedet. Mit Milliardengeldern der EU sollen sie zurück ins Boot geholt werden, und neue Studiendesigns werden entworfen. Können die dafür sorgen, dass Psychopharmaka Menschen nicht nur zudröhnen, sondern ihnen langfristig helfen? Oder ist ein grundsätzlich anderer Umgang mit Medikamenten nötig: Verzicht oder schnellst mögliches Ausschleichen und empathische Begleitung?

Sendung nachhören:

www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/dok5/download-psychiatire-psychopharmaka-100.html

40 Jahre Sozialpsychiatrie – doch ein bisschen leise

Zum 40-jährigen Bestehen eines Sozialpsychiatrischen Dienstes in Bayern hat
Heiner Keupp, emeritierter Professor für Sozialpsychologie den Festvortrag gehalten mit dem Titel “Von der Gemeindepsychiatrie zur Inklusion?”
Dieser Titel weckte Hoffnung auf Hinweise zum besseren Verständnis der  Prozesse von Institutionalisierung und Verrechtlichung, die dem Aufbruch zu einer humaneren Psychiatrie in den 60er/70er Jahren folgten , und die diesen weitgehend zum Erliegen brachten.

Teilnehmen konnten wir an dem Festakt nicht, aber wir haben uns die PowerPoint Präsentation des Vortrages angeschaut.
Würde der Experte für Gemeindepsychologie zu der neueren Entwicklung der Sozialpsychiatrischen Dienste hin zu eher traditionellen Beratungsstellen für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen kritisch Stellung nehmen? Denn die Dienste verzichten heute weitgehend auf die Vielfalt der Angebote der ersten Generation, sind nur noch sporadisch Orte, wo psychiatrisierte, einsame Menschen mit überwältigenden Problemen, die sonst nirgends Ansprache finden, besonders willkommen sind.
Der Zusatz “sozial” zur Psychiatrie erfüllt somit aus unserer Sicht ohnehin nicht mehr diese ursprüngliche Zielsetzung. Keupp sagt mit Recht, dass die damals neue Bezeichnung den Mitarbeitern zunächst “Identität und kämpferische Perspektive” vermittelte. Aber Sozialpsychiatrie war auch mit Inhalten verbunden, die der heutige Ansatz kaum mehr garantieren kann. (im einzelnen dazu in den  Übersicht alle hilfe Blätter)

Keupp erhebt den Anspruch auf eine “reflexive Sozialpsychiatrie”. Zunächst schildert er (in der bekannten eigentümlichen  Sprache) die Zustände in unserer Gesellschaft als ein wahres Horrorszenario anhand häufig beklagter Merkmale: “Fluide Gesellschaft” mit “Zonen der Verwundbarkeit”, Beschleunigung, Erschöpfung, ausgeliefert sein auch im Privat- und Gefühlsbereich, Tod des Selbst, keine Identität, Hoffnungslosigkeit, keine Alternativen, Arbeit um jeden Preis, gnadenlose Konkurrenz und Macht, Geld und Status, “Zwang als Selbsttechnologie”, Ökonomisierung, auseinander driftende Einkommensunterschiede, Exklusion statt Inklusion, Verlust des Glaubens an “traditionelle Meta-Erzählungen” etc..
Dabei bringt die Art der Darstellung dieser Befunde nicht mehr Erkenntnisgewinn, ebenso wenig wie die dargebotenen üblichen Statistiken zu Burnout, Depressionen und psychischer Erkrankung von Arbeitnehmern.

Wollen wir überhaupt – die Frage stellte sich daraufhin – per Inklusion (Vorschrift der  Behindertenrechtskonvention) behinderte Menschen in diese Gesellschaft “des globalisierten Netzwerk-Kapitalismus” integrieren? Die Frage bleibt so im Raum stehen.
“Eine wachsende Anzahl von Menschen (ist) von der Zugehörigkeit ermöglichenden Verwirklichungschance abgeschnitten, marginalisiert und aus dem Alltag von Arbeit, Politik, Konsum und Zivilgesellschaft ausgeschlossen (ist) oder erlebt sich so.”
Befähigungen und ihre Verwirklichungschancen im Sinne des “capability approaches” von Martha C. Nussbaum und Co. rückt Keupp im Verlauf des Vortrags in den Vordergrund: man müsse zwischen Lebensstilen wählen können, eine “selbstbestimmte Suche nach Lebenssinn, Identität und Eigensinn” müsse “zentrales Mandat der Sozialpsychiatrie” sein.
Unklar bleibt, was aus denen wird, die weniger befähigt sind.

Schauen wir uns weitere Forderungen des Referenten an:
Grenzziehung als Identitätsarbeit, sich dem Anpassungsdruck widersetzen, nicht employability oder Nützlichkeitsdenken sollte Kriterium von Zugehörigkeit sein, sondern Würde. Das “unternehmerische Selbst” sollte kritisch hinterfragt werden, ebenso wie das Ziel maximaler Selbstkontrolle. Ein Ich, eine “ganze” Persönlichkeit trotz aller Widersprüchlichkeit fordert Keupp unter Rückgriff auf Bleuler.
Nötig sei eine “differenzierte Gesellschaftsdiagnostik”, die “im öffentlichen Raum kommuniziert wird”, entschlüsselt aus den “individualisierten Problem- und Leidenszuständen der Subjekte”, um subjektives Leiden nicht zu “klinifizieren” und zu “medikalisieren” und damit den Tatbestand des “Befriedungsverbrechens” zu erfüllen.
Na ja.
Kritische Reflektion der Beteiligungsgerechtigkeit bedeute, zur Gerechtigkeitsperspektive müsste die Grundsicherungsperspektive kommen, um Zugang zu materiellen und immateriellen Verwirklichungschancen zu bieten. Auch die Salutogenese a la Antonovsky kommt nicht zu kurz. Abschließend wird noch gefordert, die “aktive Umsetzung der Inklusion und der Grundideen der Gemeinde- und Sozialpsychiatrie zu stärken”.

Man sieht, es gibt in dieser Festrede viele wichtige und richtige Zutaten, von allem etwas. Und der Vorschlag Gemeinde- und “Sozialpsychiatrie wieder als Teil einer gesellschaftlichen Oppositionsbewegung zu begreifen”  ist dann das Sahnehäubchen – und die erbauliche Rede ist fertig. Jeder kann das wohlige Gefühl haben, dabei sinnvoll tätig werden zu können.
Eine verpasste Gelegenheit das Festpublikum aufzurütteln und für die “chronischen” Patienten, die selbständig leben möchten, eine Lanze zu brechen? Das war ja die ursprüngliche Bestimmung Sozialpsychiatrischer Dienste! Und – schreckliche Tatsache – die Chancen dieser Menschen haben sich keineswegs verbessert.
Offiziell heißt es zwar noch:
“Durch (…) ein niederschwelliges Setting können sie (die Sozialpsychiatrischen Dienste) mit ihren sozialpsychiatrischen Leistungen insbesondere chronisch psychisch kranke Menschen erreichen. Ein möglichst hohes Maß an aufsuchender Hilfeleistung ist dabei genauso ein konzeptionelles Kennzeichen der Dienste wie eine Gemeinwesenorientierung und der Auf- und Ausbau regionaler Netze und fallbezogener Netzwerke in der Region.” (Bayerischer Bezirketag, Psychiatrische Versorgung, 2013)
Aber, auch wenn es in den offiziellen Verlautbarungen der Geldgeber noch steht, Trägervertretern und wohl auch einer Mehrzahl der Mitarbeiter liegt diese Zielgruppe offenbar nicht besonders am Herzen.
Der erhoffte kritische Appell , der laut und deutlich die Realisierung einer menschlicheren Psychiatrie – wie sie vor 40 Jahre versucht  wurde – verlangt, war diese Jubiläumsrede nicht. Einige der fortschrittlichen Thesen und Theorien anzutippen, die nach dem Aufbruch damals entstanden,  reicht dafür nicht aus.

Lauter und deutlicher – wenn auch in ziemlich verquaster Sprache – äußerte sich Ernst von Kardorff auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie 2016 zum Thema “40 Jahre gesellschaftspolitisches Projekt ‘Psychiatriereform’ – Was ist daraus geworden?”
Abschließend hier einige Kostproben aus dem Referat:
”der Erfolg (der Psychiatriereform) wurde jedoch mit einer unkritischen Übernahme des gesellschaftlichen Auftrags zur Organisierung eines möglichst reibungslosen Umgangs mit psychischem Leiden und den Ver-rückten erkauft.”
“Mit der Ausdifferenzierung der Gemeindepsychiatrie ist eine sozialpsychiatrische Selbstgenügsamkeit und eine vorwiegend nach innen auf die ‘gemeindepsychiatrische Szene’ gerichtete Nabelschau aller beteiligten Akteure entstanden.”
Das “Versorgungssystem ist nicht nur intransparent, sondern weist Mängel in Kooperation und Koordination und Vernetzung auf und hat Wirksamkeitsdefizite.”
Und last but not least, “wissenschaftliche Studien (…) belegen (…) die fortdauernde Diskriminierung besonders schwer erkrankter psychisch beeinträchtigter Menschen, sei es in der Öffentlichkeit in Schule und Ausbildung und innerhalb des Versorgungssystems, bei der Wohnungssuche und im Geschäftsverkehr, sowie auf dem Arbeitsmarkt.” (s. Soziale Psychiatrie 02/2017, S. 4 – 8).
W. Ohnesorge

Es fehlt etwas in der Gedenkrede von Norbert Lammert

Wir brauchen die Schwachen unbedingt! (zugegeben: Das ist auf Anhieb schwer zu kapieren.)
Das ist einer von zwei Aspekten, die in der Rede von Norbert Lammert zum Holocaust Gedenktag im Bundestag am 27.1.2017 gefehlt haben.

Menschen guten Willens sind nett zu Behinderten. Klar. Man lässt sie auch mal öffentlich dies und das machen, zum Beispiel am Holocaust Gedenktag im Bundestag vortragen oder musizieren und hat ein gutes Gefühl dabei. Aber häufig ist die Herablassung der nicht beeinträchtigten Menschen unübersehbar: “dass wir die Schwachen dringend benötigen, das kann man doch beim besten Willen nicht sagen.” Das meinen diese Wohlwollenden in der Regel.
“Oh doch, wir brauchen beeinträchtigte Menschen”.sagen wir von EREPRO mit vielen anderen.

Und daran sollte man sich immer wieder erinnern.  Autoren wie Lukas Bärfuss1, auch Botho Strauss2 und der kürzlich verstorbene Imre Kertesz3 haben deutlich darauf hingewiesen. Um nur einige bekannte Namen zu nennen.

Bundestagspräsident Lammert (oder seine RedenschreiberIn) scheint weniger dieser Auffassung zu sein. In seiner Rede zum Holocaust Gedenktag im Bundestag4 bringt er zwar korrekt die üblichen Gedankengänge des Euthanasie-Narrativs, diesen wichtigsten Aspekt der Unentbehrlichkeit  schwacher Menschen aber betont er aber eben nicht.
Er spricht über die Morde an 300.000 Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Er nennt die grotesken, unmenschlichen Argumente der Nationalsozialisten:  Kurzfassung: “Unheilbare” Menschen sind “lebensunwert” und “nutzlose Esser”, die keine Leistung erbringen für die Gesellschaft, sondern nur Kosten verursachen, Gelder, die man lieber für “die Förderung der Gesunden und Starken” ausgegeben hätte.

Unterstellt wird vom Festredner – wie immer bei solchen feierlichen Gedenkstunden, dass diese Überlegungen von den Zuhörern als moralisch verwerflich geteilt werden, und selbstverständlich nur Entsetzen und Ablehnung hervorrufen.
Das ist aber nicht unbedingt der Fall. Darum wirken solche Reden – auch die von Lammert – auf mich immer ziemlich heuchlerisch. Meine Erfahrung als Psychiatrie-Mitarbeiterin sieht ganz anders aus.

1. Die Ablehnung von Schwäche und Leistungsunfähigkeit ist weit verbreitet. Wir sind es doch alle gewohnt, durchaus pragmatisch  Vor- und Nachteile abzuwägen – auch unter dem Gesichtspunkt des “allgemeinen Wohls”. Warum dominieren hier aber in erster Linie finanzielle Gesichtspunkte?
2. Oder: dass nachweislich erblich belastete Menschen besser keine Kinder bekommen, die wiederum behindert sind oder sein könnten. “Es ist doch unvernünftig, nicht produktiv, eine vermeidbare Belastung und sinnlos diesen Menschen mit Behinderungen die völlig freie Entscheidung in Sachen Kinderwunsch zu überlassen,” heisst es normalerweise.  Man will den betroffenen Menschen mit Beeinträchtigungen keineswegs bei Kinderwunsch die freie Wahl lassen – wie damals, als man sie sterilisiert hat.

Diese Gedanken sind im Jahre 2017 genauso verbreitet wie früher, wenn auch vielleicht nicht so offen ausgesprochen. Darauf hinzuweisen, das fehlt ebenfalls in der Rede von Norbert Lammert.

Sigrid Falkenstein teilt in ihrem Vortrag bei dem Holocaust Gedenken im Bundestag mit, dass es bis heute nicht erlaubt ist, die Namen der von den Nationalsozialisten getöteten psychisch Kranken zu nennen, weil die Angehörigen sich diskriminiert fühlen könnten – und sich schämen?

WAS ALSO? Ist es nun eine Schande, dass es unfähige und hässliche Menschen und Versager, die Mist bauen, immer noch gibt, trotz aller Fortschritte der Wissenschaft, oder sind diese Schwachen eine Bereicherung und notwendiger Teil der Gesellschaft – vielleicht sogar Garanten unserer Menschlichkeit?

Manch ein anstelliger und patenter Mensch mag Schwäche und Behinderung sogar als bedrohlich empfinden. Ich denke, das sind bei uns nicht wenige. Sie fordern: “Fürsorge und und Therapie sollen in gesonderten Bereichen spezialisierter Einrichtungen professionell durchgeführt werden, um Schwäche und Behinderung zu beheben.”

Einige dieser tüchtigen Leistungswilligen und -fähigen planen in der Konsequenz ihrer Haltung sogar, sich im Alter das Leben zu nehmen, wenn auch sie selber schwach sind und anderen zur Last fallen könnten.
Ist es nicht erschreckend, dass Menschen in unserer Gesellschaft so denken (müssen)?

Vielfalt, Offenheit und eine bunte Gesellschaft werden heute immer wieder beschworen. Geht es da nur um die Flotten, Schönen und Witzigen, oder genauso um die, die anders sind, die Hässlichen, Unattraktiven und Verrückten?
Auch Alter, Einfältigkeit, und Bedürftigkeit gehören dazu und müssen sichtbar bleiben, damit unser Menschenbild nicht eindimensional wird. Menschliche Grenzen sollten sichtbar bleiben, was dann vielleicht sogar allgemein die Beanspruchung jedes Einzelnen mindern könnte.
Berührungsängste der Gesunden mit schwachen Menschen können natürlich besser abgebaut werden, wenn Kontakt zu den Belasteten besteht. Ohne Gelegenheit zum Mitleiden und ausüben von Barmherzigkeit verlieren wir unsere typisch menschlichen Vorzüge. “Der Schutz der Schwachen ist die Würde der Gesunden”, sagt der Volksmund.

Es geht um unsere Selbstinterpretation:
Schwäche, Abhängigkeit, Hilfsbereitschaft, auch Verzicht und Enthaltsamkeit, ebenso wie Träume beanspruchen dabei Spitzen-Plätze, wenn wir nicht in ein kaltes Universum von rational pragmatischer Zweckmäßigkeit abgleiten wollen, in dem  Schmerz, Tragödie und Mysterium völlig ausgegrenzt sind.6
Darum brauchen wir die Schwachen unbedingt in unserer Mitte.
Wilhelmine Ohnesorge

 

Anmerkungen

1 Bärfuss, Lukas, Interview mit Julian Weber. “Nur Mitleid kann etwas ändern.”, TAZ 28.11.2015

2 Botho Strauss: Lichter des Toren: Der Idiot und seine Zeit, 2013

3 Imre Kertesz, Die exilierte Sprache. Darin: Der Holocaust als Kultur, 2003, S. 82

4 https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2017/002/490682

5 https://www.bundestag.de/blob/490396/f543299bb20f65a9fe09ee7969c4ca7c/kw04_de_gedenkstunde_sfalk-data.pdf

6 in dem Film “la la land” gibt es einen schönen Song dazu: Auditio (The fools who dream):

Here’s to the ones who dream
Foolish as they may seem
Here’s to the hearts that ache
Here’s to the mess we make…

 

 

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Inklusion – wie soll das gehen? Ein Vorschlag.

Zum 10-jährigen Jubiläum der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) erhielten wir einen neuen “Bericht aus Genf” (11) von Theresia Degener, die ein differenziertes Bild der Fortschritte internationaler Akzeptanz der BRK zeichnet, Probleme und Rückschläge dabei aber nicht auslässt. PDF-Dokument (639,1 KiB)

Frau Professor Degener begrüßt es, dass erstmals auch Menschen mit Lernschwierigkeiten im UN-BRK-Ausschuss vertreten sind. (kleine Anmerkung von EREPRO: von “behinderten” Menschen aus der Psychiatrie gar nicht zu reden …)

Aber:

… „auch im 10. Jahr des Bestehens der UN-BRK haben viele Vertragsstaaten das Menschenrechts-Modell von Behinderung noch nicht verstanden. Das Ausmaß der Verpflichtungen aus der UN-BRK ist vielen Vertragsparteien nicht bekannt. Wie bei anderen Menschenrechtskonventionen kommt es für die Umsetzung ganz wesentlich auf die Einmischung der Zivilgesellschaft in den Umsetzungsprozess an.

Diese “Beteiligung der Zivilgesellschaft” vermisst Volker Conrad ebenfalls, der sich in einem Artikel „Exklusion in Zeiten der Inklusion“ in der Zeitschrift Soziale Psychiatrie 3/2016 S.4f mit der Situation der Inklusion in der Psychiatrie befasst- nachdem er festgestellt hat, dass die Situation für psychisch kranke Menschen hierzulande als „desaströs“ bezeichnet werden müsse, wenn “man die Wirksamkeit der Eingliederungshilfe am Ziel der sozialen Integration festmachen” würde.

Insbesondere sieht er eine große  Benachteiligung von „Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und mit herausfordernden Verhaltensweisen, deren sozial nicht als angemessen empfundene Lebensführung auf klare Ablehnung stößt“. Um hier weiter zu kommen, und Inklusion von Psychiatriepatienten etwas mehr zu realisieren, fordert er ähnlich wie Degener, aber etwas konkreter:

„Wir müssen auf mehreren Ebenen ansetzen. Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie fordert unterschiedliche Akteure; Gemeinden, die bezahlbare Wohnmöglichkeiten im Quartier schaffen; Nachbarschaften, die sensibilisiert werden; Bildungseinrichtungen und kirchliche Organisationen; Betroffene und Angehörige, die in Planungsprozesse einbezogen werden müssen; Arbeitgeber, die Menschen eine Chance geben und mit gelungenen Beispielen zur Nachahmung motivieren und  ‚Experten aus Erfahrung’, die in die Arbeit einbezogen werden müssen.“ Und: “Andersartigkeit als Bereicherung verstehen”!

Diese Zielvorstellungen entsprechen haargenau den Orientierungspunkten, die uns 1977 leiteten beim Aufbau eines Sozialpsychiatrischen Dienstes in Bayern. Wir nannten es nicht Inklusion, die Absicht war aber die gleiche. Wir verabredeten damals mit dem Stadtentwicklungsreferenten, dass die verschiedensten städtischen Gruppen aufgefordert werden sollten sich für psychisch kranke Menschen zu öffnen. Das war der völlig falsche Ansatz, der nicht funktionieren konnte. Eine Zumutung – vor allem für die von vorne herein etikettierten Neuankömmlinge in den Gruppen! Im Laufe der Jahre erschien uns ein Ziel wie diese Inklusion zu undifferenziert. Denn – psychisch krank oder nicht – niemand kann einfach so überall oder irgendwo dazu gehören.

Heiner Keupp kritisiert, dass Inklusion psychisch kranke Menschen der freien Wildbahn unserer Leistungsgesellschaft ausliefere. http://www.dgsp-ev.de/fileadmin/dgsp/pdfs/Artikel_Soziale_Psychiatrie/Verworfenes_Leben__H._Keupp_.pdf
Ein solches Ziel allein – auch in guter Absicht positiv formuliert – kann nicht Intention der Behindertenrechtskonvention sein und wäre sinnlos. Es sollte stattdessen um einen entsprechend bestimmter Regeln strukturierten Vorgang der Inklusion Einzelner gehen.
Keupp fährt fort: “Die Normen für Anerkennung und Zugehörigkeit heißen »employability« [Beschäftigungsfähigkeit] und ökonomischer Nutzen.”
Auch das ist in der Allgemeinheit Unsinn. Inklusion kann ja nicht heißen, dass alle überall die gleichen Werte vertreten. Die Normen für Anerkennung und Zugehörigkeit variieren natürlich je nach sozialer Gruppierung. Und nachdem bekanntlich jeder im Prinzip von psychischer Erkrankung betroffen sein kann, geht es um eine riesige Vielzahl unterschiedlicher Menschen und ihre Vorlieben und Interessen.

Wir müssen uns von der Vorstellung befreien, psychisch kranke Menschen immer als ausgeschlossen zu sehen und dagegen anrennen zu müssen. Niemand will und kann überall dazu gehören. Von uns würde es keiner als “Exklusion” oder “Stigmatisierung” betrachten, wenn wir als Therapeuten nicht in einem Banker Club zugelassen sind.

Wir im Sozialpsychiatrischen Dienst bemühten uns damals, “Zugehörigkeit” aktiv herzustellen. Zugehörigkeit von psychisch kranken Menschen zu durchgehend an festen Zeitpunkten stattfindenden ziemlich homogenen Gruppen (hinsichtlich Bildung,  beruflicher Ausrichtung, sozioökonomischem Status, Familienstand etc.), an denen sie regelmäßig teilnehmen sollten, und wo sie im Laufe der Jahre Freunde und Bekannte finden konnten.
Diesen Prozess der Entwicklung von Zugehörigkeit als Unterstützungsangebot der Psychiatrie hatten wir genau geplant und fachlich korrekt durchgeführt. Der Sozialpsychiatrische Dienst bot dazu eine sehr große Zahl von Gruppen an, so dass jeder Gelegenheit hatte, sich eine passende auszusuchen und dort auf Gleichgesinnte treffen konnte. Sogar “Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und mit herausfordernden Verhaltensweisen, deren sozial nicht als angemessen empfundene Lebensführung auf klare Ablehnung stößt“, ebenso wie nicht besonders kontaktfreudige Psychotiker können auf diese Art “Freunde” finden, denn diese Gruppen entwickeln eine bemerkenswerte Toleranz und tun einiges für ihren Zusammenhalt.

Dass diese Gleichgesinnten in den Gruppen eines Sozialpsychiatrischen Dienstes häufig vergleichbare psychische Probleme haben, liegt nahe und muss nicht verwundern. Man versteht sich daraufhin gut und kann sich gegenseitig unterstützen.Diese Gruppen deshalb aber als kleine “Ghettos” im ambulanten Bereich zu bezeichnen, verabsolutiert die Kennzeichnung “psychisch krank” im Sinne einer schweren Stigmatisierung.
Diese Gruppen und Bekanntschaften lösten sich in vielen Fällen ab vom Ursprungsort Sozialpsychiatrie und bestehen zum Teil bis heute weiter – noch 30 bis 40 Jahre danach. Eine praxisorientierte Beschreibung diese Art von Inklusion haben wir in hilfe Blätter von EREPRO Ausgabe Nr. 12;  Mai 2007 angeboten.

Was meint Frau Degener genau mit “Einmischung der Zivilgesellschaft in den Umsetzungsprozess” der BRK”? Und Herr Conrad fragt zu Recht, “wie schwer ist es (…), Andersartigkeit (von Menschen  mit psychischen Erkrankungen) als Bereicherung zu verstehen”!
Grundsätzlich wird (fast) jeder “JA” zu diesen Sätzen sagen, aber auch “zu anstrengend beim gemütlich entspannten Zusammensein mit Freunden und Bekannten nach Feierabend”. Klar.

Solche Forderungen und moralische Appelle sind gut. Realisierbare, konkrete Angebote zur Teilnahme und Zugehörigkeit in Gruppen Gleichgesinnter aber sind besser für Menschen mit psychischen Problemen.
Ch. Kruse

Anmerkungen und Hintergrundinformationen

zu dem Text
“Verletzt – bedroht – gewalttätig. Respekt und Mitgefühl retten Leben”

1 s. Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. 2014, 7. Auflage. S. 6: “Karl Mannheimer wies darauf hin, dass diese Einstellung von Angst grundiert ist.”
s. dazu auch Klaus Theweleit, Männerphantasien, 1977, über den soldatischen Mann mit ähnlichem Verhalten.

2 W. Picht, Der soldatische Mensch, 1940. Hier haben wir wenig über das Sozialverhalten von überlebenden Kriegsteilnehmern gefunden: Deren positive Erfahrungen mit Überlebensstrategien sind kaum Thema, sondern vor allem Traumata und Behinderung als Thema der Psychiatrie.
http://portal-militaergeschichte.de/psychische_versehrungen

In welcher Form man sich kurz nach dem 2. Weltkrieg mit den Belastungen der Soldaten auseinandersetzte, mutet uns heute sehr seltsam an. Das  zeigt der Artikel “Dystrophie die Krankheit der Heimkehrer”, Der Spiegel, 7.Oktober 1953 Dieser Artikel kann im Internet gelesen werden –  nur für den privaten Gebrauch.

3 s. Gerhard Vinnai, Die Liebe zu Krieg und Gewalt. Frankfurter Rundschau 20.3.2003

4 Der Allmachtsglaube der Nationalsozialisten prägte das Erziehungskonzept von Johanna Harrer, dem sich auch viele Kritiker der NS Ideologie (nichts ahnend?) anschlossen: Das Unbezähmbare im Menschen sollte von Geburt an bekämpft werden. Es ging um “Zähmung” des Kindes, der sich die Mutter voll und ganz widmen sollte.
Der Erziehungsratgeber von Harrer erschien bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, und beeinflusste auch noch die Nachkriegsgeneration. Im Hinblick auf diese sehr  verbreitete Auffassung wurden die Ideen der antiautoritären Erziehung in der Studentenbewegung von Vielen grundsätzlich abgelehnt.
s. Johanna Harrer, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, 1934
über Johanna Harrer:
http://www1.wdr.de/fernsehen/information/frautv/sendungen/erziehungsideale100.html und
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Johanna_Haarer

Über entsprechende Praktiken in den 1970er Jahren: s. Peter Høeg, “Der Plan von der Abschaffung des Dunkels”, 1993. Roman, der “den Verlust der Kindheit durch eine ins Unmenschliche getriebene Humanität anklagt, die alles hinauf ans Licht zerren will, was von Natur aus (noch) zweifelhaft und dunkel ist. (…) Nicht nur der kalkulierte Einsatz eskalierender Gewalt diszipliniert, auch die Zeit.”
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12213

s. Ingrid Müller-Münch, Die geprügelte Gernation. 2012, S. 75f

5 dazu Pierre Legendre, Über die Gesellschaft als Text. Grundzüge einer dogmatischen Anthropologie, 2001, deutsch 2012, Seite 133: “die Psychoanalyse kann als Entsprechung der vor zweieinhalbtausend Jahren erfolgten Entdeckung der mathematischen Inkommensurabilität betrachtet werden. Sie entspricht also dem so fruchtbaren Konzept einer irrationale Größe.”

Da unserer Erörterung viele Gedanken von Pierre Legendre zugrunde liegen, der Hinweis auf einen Artikel über diesen Autor:
Schneider Manfred, “Es genügt nicht, Menschenfleisch herzustellen”. Ein Porträt des Rechtshistorikers und Psychoanalytikers Pierre Legendre. Frankfurter Rundschau 2. Oktober 1998.

6 Über die gängigen sozialwissenschaftlichen Theorien zum Thema das “Böse” informiert der Film von Stefan Ruzowitzky Das Radikal Böse. 2014
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_radikal_B%C3%B6se_%28Film%29

Kreatürlich – triebhaft, tierisch, körperlich

8 zur Rezeption des Kantschen Erhabenen durch Lyotard. MA Philosophie, Fernuniversität Hagen o. J., S. 5.

s. auch Daniel Tkatch, Das ästhetisch Erhabene bei Jacques Rancière. Seine Kritik der Ästhetik Lyotards. http://notes.danieltkatch.net/?s=Ranciere

9 s. Milo Rau, Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft. Intelligent Leben 4, 2013

s. Jekyll & Hyde. Das Andere in uns. Dokumentationsfilm von Artem Demenok, in dem er sehr umfassend über viele Äußerungen in Film, Literatur und Philosophie zum Thema “Gut und Böse” berichtet. http://www.3sat.de/page/?source=/ard/themenwochen/165385/index.html

 

10 “Das ‘Unberechenbare’ – wörtlich – war es, das die meisten erwachsenen Kinder von psychisch Kranken an ihren Eltern gestört und häufig schwer belastet hatte – bei aller Unterschiedlichkeit der Symptome der Eltern.”

Aus dem unveröffentichen Bericht über Selbsthilfegruppen für erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern in einem Bayerischen Sozialpsychiatrischen Dienst.

 

s. auch “Wenn meiner Mama etwas passiert, ist das für mich nichts Besonderes.” Protokoll einer Selbsthilfegruppe erwachsener Kinder von psychoseerfahrenen Müttern.

hilfe Blätter von EREPRO Nr. 10, 2003, S. 5 – 12.

s. “Meine Mutter ist schizophren”, a.a.O. S. 25

s. “Meine Mutter ist depressiv”, a.a.O. S. 22

s. Tagebuch der Anna Maria Hauser, Fortsetzung in verschiedenen hilfe Blätter von EREPRO, Gesamttext des Tagebuches einer psychisch kranken Mutter von 4 Kindern “Kummerbuch mit ‘Krimi’ (sehr ernst zu nehmen)” zu bestellen bei EREPRO gGmbH Frundsbergstraße 16, 80634 München.

 

11 Schopenhauer war einer der wenigen Denker, … der im Schlaf den “wahren Kern der menschlichen Existenz verortete. Seit jeher assoziieren die menschlichen Kulturen den Schlaf mit dem Tod, denn beide verweisen darauf, dass die Welt auch ohne uns fortbesteht. (…) Es sind Visionen vom Schlaf als einer radikalen Unterbrechung, als einer Verweigerung der unerbittlichen Ansprüche der globalen Gegenwart, als Möglichkeit des Neuanfangs.” Jonathan Crary, Vom Schlaf, Le Monde diplomatique, 13.6.2014. http://www.monde-diplomatique.de/pm/2014/06/13/a0036.text

 

12 s. Ursula Rao, Klaus-Peter Köpping, Transformation der Wirklichkeit. Der Begriff des Rituals lässt sich ausweiten, ohne dass seine Konturen verschwimmen. Frankfurter Rundschau 7.12.1999


13 Ein gutes Beispiel ist der Butoh Tanz
:

s. der Fernsehfilm darüber http://programm.ard.de/TV/Themenschwerpunkte/Musik-und-Kultur/Klassik-Oper–Tanz/Startseite/eid_2811310828744303?list=themenschwerpunkt%22

Trailer

https://vimeo.com/120316043


14 Hans Henny Jahnn, der Orgelbauer und Schriftsteller aus Hamburg, meinte,

“gäbe es eine Rangordnung der Künste, stünde die Musik an der Spitze”: Jahnns Utopie, die Musik könne die Menschheit erlösen. s. Ulrich Greiner, Die sieben Todsünden des Hans Henny Jahnn. Zeit-online, 11. November 1994

http://www.zeit.de/1994/46/die-sieben-todsuenden-des-hans-henny-jahnn


15 Theorie der angeborenen Universalgrammatik von Noam Chomsky.

Er vertritt, dass es unveränderliche Prinzipien für alle Sprachen gebe. Er postuliert einen Mechanismus, ein Berechnungsmodul auf genetischer Basis, das im Individuum das Sprechen der jeweiligen Umgebungsprache bei zureichender Exposition erzeuge.

Es geht Chomsky um die mentalen Mechanismen, die dem Sprechen zugrunde liegen, nicht um den Handlungsprozess. Die Theorie Chomskys ist nicht unumstritten.

Noam Chomsky, Aspekte der Syntaxtheorie, Englisch 1965, deutsch 1969


s. Pierre Legendre, Über die Gesellschaft als Text, 2001, S. 110 f.


16 Marcus Steinweg Philosophie der Überstürzung, 2913, S. 20

 

17 Carolin Emcke, Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF, 2009, S. 76:

“Vielleicht ist es das, was mir am unverständlichsten bleibt. Wie sie so sicher sein konnten. So sicher sein konnten, das Richtige zu tun.” 

Marcus Steinweg spricht von der “Richtigkeitsdiktatur”. s. Überstürztes Denken, Roter Salon, Volksbühne Berlin, 9.2.2016

18 Pierre Legendre, Gesellschaft als Text, 2012 stsch. S. 29, S. 76f, 104-105 und 139
“Wir verstehen nun, was die szientistische Verdrehung bedeutet: sie besteht darin zu glauben und den Glauben zu erzeugen, dass das wissenschaftliche  Vorgehen und seine technologischen Verlängerungen den Menschen von seiner eigenen Dunkelheit befreien und den Satz ‘alles ist möglich’ in der Wirklichkeit zur Erfüllung bringen.”

 

“ in einer auf strikte Objektivität orientierten Methodologie wird… die Methode selbst zum Mittel der Angstbewältigung.”

Devereux, G. Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. 1976.

“Um meine Einwände zusammenzufassen: In der Rückkehr zu den entlastenden Fetischen des mechanistischen Weltbilds, zur Monadentheorie des Subjekts, zur Kausalität der Natur, zur Vorstellung einer linearen Steuerbarkeit Auto poetischer Systeme – in diesen Merkmalen des neuen Szientizismus, der sich selbst zur Lebenswissenschaft erklärt, erleben wir eine deprimierende Regression humanwissenschaftlichen Denkens.”   Martin Altmeyer, Im Geschosshagel der Sequenzierroboter, Der neue Scientismus ignoriert die Ergebnisse der modernen Wissenschaftstheorie Frankfurter Rundschau 22.05.2001

s. Jahrbuch für kritische Medizin 43, Prävention. 2006, S. 61, 62.

 

19 Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 109 f


20 Dazu ein Gedicht von Sören Kierkegaard aus “Entweder Oder” Teil 1 und Teil 2, 2005, S.32:

“Hemme nicht deiner Seele Flug, betrübe nicht das Bessere in dir, ermatte deinen Geist nicht mit halben Wünschen und Gedanken. Frage dich, und höre nicht auf zu fragen, bis du die Antwort findest; denn man kann eine Sache viele Male erkannt, sie anerkannt haben, man kann eine Sache viele Male gewollt, sie versucht haben, und doch, erst die tiefe innere Bewegung, erst des Herzens unbeschreibliche Rührung, erst sie vergewissert dich, daß das, was du erkannt hast, dir gehört, daß keine Macht es dir rauben kann; denn nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich.”


21 Nida-Rümelin, Julian, Tief in unserer Lebenswelt verwurzelt. Frankfurter Rundschau, 2.3.2004


22 Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S.71

 

23 s. Hans Dietrich Irmscher, Blick auf einen “Bund von Sternen”. Johann Gottfried Herder zum 250. Geburtstag, Frankfurter Rundschau 20.8.1994

24 zitiert nach Pfeil, Ludger, Du lebst, was du denkst. 2015


s. Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 66


25 Die folgende Darstellung orientiert sich weitgehend – auch in sprachlichen Formulierungen – an Pierre Legendre, Die Fabrikation des abendländischen Menschen, 1999


26 zum Gedanken “Tod als Einbildung” s. Peter Weiss, Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade.1964, S.37


27 Ein Beispiel: Der Trommler ist auch außer sich. Er kann sich aber ausleben im Rhythmus des Instrumentes, das er schlägt. Er ist eins mit den Trommeln. Es entsteht mehr als seine Schläge, etwas Neues, Drittes, das ihm Leben ermöglicht. Es reißt ihn mit. Er steuert nicht mehr. Die Aufgehobenheit verschafft ihm Distanz. Trotz dieser Selbstvergessenheit verliert er nicht die Kontrolle.

 

28 s. Michael Jäger, Wer fragt, der findet. Der Freitag, 13.11.2013


29 Zitat Platon, Gastmahl, 202a: “…dass es ein Mittleres zwischen Weisheit und Unverstand gibt, das Intervall, als das was sich dazwischen befindet.”


30 Dieser Zusammenhang zwischen Verletzungen verschiedenster Art und Angst, Wut und Gewalt gilt als wissenschaftlich “gut belegt” und mag dem Leser sehr bekannt und damit “banal” vorkommen.

s. Avishay Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, 1997, S. 74


Hans-Peter Waldrich beschreibt, wie dem Amokläufer von Winnenden Anerkennung und Zuwendung fehlte, und er immer wieder mit Nichtachtung bestraft wurde.

Hans-Peter Waldrich, Warum  junge Menschen Amok laufen. 2010.


s. Bernd Neuzner, Horst Brandstätter, “Wagner. Lehrer, Dichter, Massenmörrder.” 1997


“Ein
Mann, den niemand achtet, verliert dadurch seine Würde, und so zählt dieser Mann nur noch halb, auch wenn er unversehrt ist.” sagt Gottfried von Straßburg, Tristan, 1280

zitiert nach Wikipedia

https://de.wikipedia.org/wiki/Tristan_%28Gottfried_von_Stra%C3%9Fburg%29

 

Die Täter von Abu Ghraib wurden von niemanden respektiert. Sie machten die Folter-Bilder, um bei den anderen Soldaten anzugeben. (…)

s. “Wir alle sind verführbar”, Philipp Zimbardo im Interview mit Frauke Haß, Frankfurter Rundschau,10.8.2008

 

Die Frustrations-Aggressions-Hypothese von Dollard und Miller trifft den gemeinten Zusammenhang nicht genau, da es uns vorrangig auf das subjektiv Erlebte ankommt.

s. Wikipedia  https://de.wikipedia.org/wiki/Frustrations-Aggressions-Hypothese


31
Es geht in dieser Erörterung um die
erlebte Verletzung. Deren Bedeutung und Wirksamkeit bisher in Psychotherapieforschung und vielfach auch in der Praxis der Psychotherapie zu kurz gekommen sind.

Auf dem Psychotherapie Kongress der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie 2016 wurde diesem Thema einige Aufmerksamkeit gewidmet. Beispielsweise wurde auf die kulturellen Konnotationen des Begriffs des “Traumas” hingewiesen, der jeweils völlig unterschiedlich definiert werden kann. Außerdem wurden Untersuchungen referiert über die Rezeption von Psychotherapie bei den Patienten. Forschungen über die langfristige Wirksamkeit von Therapien gegenüber den Klagen und Beschwerden der Hilfesuchenden stellen hohe Anforderungen an die Methodik. Man tut sich schwer damit, die Antworten der Patienten ernstzunehmen, und sie nicht als “qualifiziert” oder “(zu) unqualifiziert” zu bewerten. Auf der anderen Seite ist die Notwendigkeit der Untersuchung dieser Frage mehr als naheliegend.

 

s. John Okiishi, Michael J. Lammbert, Stevan L. Nielsen, Benjamin M. Ogles,

Waiting for Supershrink an empirical analysis of Therapist Effekts.

Clinical psychology and psychotherapy 10, 361-373 (2003)

 

s. I.Kant, Philosophische Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 1796/97:

§ 1. Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen, selbst wenn er das Ich noch nicht sprechen kann, weil er es doch in Gedanken hat: wie es alle Sprachen, wenn sie in der ersten Person reden, doch denken müssen, ob sie zwar diese Ichheit nicht durch ein besonderes Wort ausdrücken. Denn dieses Vermögen (nämlich zu denken) ist der Verstand.

https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Kant/aa07/127.html

 
Die Neurologische Wissenschaft hat Bewußtseinsphänomene weitgehend aus ihren Forschungen ausgeklammert. s. Oliver Burkeman, Sind wir wie Roboter?, 6.5.2015, Der Freitag
https://digital.freitag.de/#/artikel/sind-wir-wie-roboter

 
32 s. Pierre Legendre, Die Fabrikation des abendländischen Menschen, 1999, S. 17

 
zu Kambodscha: s.  Dokumentarfilm von Rithy Panh, Das fehlende Bild, 2013

https://de.wikipedia.org/wiki/Das_fehlende_Bild

 
33 Beispiel Albanien. In den unzugänglichen Gebieten im Norden des Landes, ist es bis heute eine Sache der Ehre, gegebene Versprechen unbedingt zu halten und beispielsweise Gäste unter allen Umständen zu schützen (Besa). Verletzungen der Ehre haben Blutrache zur Folge.

Dieser Kanun steht als Gewohnheitsrecht an Stelle eines ausgearbeiteten Rechtssystems. s. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Kanun_(Albanien)#Formen

Eine Anmerkung:

Diese unbedingt geltende albanische Gastfreundschaft rettete vielen Juden im 2. Weltkrieg das Leben, da es eine Sache der Ehre war, sie den Nationalsozialisten nicht auszuliefern.  http://www.yadvashem.org/yv/de/education/lesson_plans/besa.asp

 
34 s. Artikel in Wikipedia über “German Angst”  https://de.wikipedia.org/wiki/German_Angst

 
s. “Die Deutschen sind apokalyptische Spießer”, Matthias Horx im Interview mit Sebastian Grundke, Der Freitag,14. Januar 2016

 
35 Hinweis von dem Neurobiologen Joachim Bauer im Gespräch mit Nora Marie Zaremba: “Ohne sozialen Ausgleich zerstören wir uns selbst.” Joachim Bauer erklärt, warum unser Gehirn nach gesellschaftliche Anerkennung hungert. Der Freitag, 7.1. 2016

s. auch Joachim Bauer, Schmerzgrenze: Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, 2011

 
36 Götz Eisenberg, Die niedergerissenen Grenzen im Inneren des Menschen. Über den Zusammenhang von Amok als kulturellem Muster und den Lebensbedingungen in globalisierten Gesellschaften. Eine Analyse. Frankfurter Rundschau 3.5.2002

 

37 s. Benedetti, G., Psychotherapie als existentielle Herausforderung, 1992.

 

“…ein historisches Kontinuum von Fixierung und Animation, Unterwerfung und Mobilisierung, der Objektivierung und Verdinglichung auf der einen Seite, aus der die Animation der Warenwelt und hegemoniale Subjektivitäten hervorgehen, aber auch widerständige Subjektivitäten, die Träger einer Erinnerung an eine Differenz sind, deren Widerstand immer der Widerstand gegen die Naturalisierung und das Vergessen sein wird.
Die Differenz, auf die sich diese – wie überhaupt jede – widerständige historische Erinnerung beruft wird zu einer ontologischen Differenz, einer Differenz gegenüber einer Seinsordnung, die immer dazu auffordern wird, der Realität die Möglichkeit des Anders-Seins abzuringen. Ihre Widerständigkeit misst sich nicht zuletzt daran, sich der Gettoisierung dieses Anderen als Fiktion zu widersetzen.” Anselm Franke

http://www.arsenal-berlin.de/de/living-archive/projekte/living-archive-archivarbeit-als-kuenstlerische-und-kuratorische-praxis-der-gegenwart/einzelprojekte/anselm-franke.html

 
38 Der Begriff “Schicksalslosigkeit” geht zurück auf den Roman von Imre Kertesz, Roman eines Schicksalslosen,1975. Er beschreibt dort seine Zeit im Konzentrationslager als 15jähriger.

 
Imre Kertesz, Die exilierte Sprache. Darin: Der Holocaust als Kultur, 2003, S. 82

 

Klaus Dörner nennt das Entsprechende “Enteignung unserer Lebenswelt”.

Dörner, Klaus, Die Gesundheitsfalle. 2003, S. 35

 
Hanna Arendt sieht “Weltlosigkeit”  (“radikaler Selbstverlust”) als eine Form der Barbarei.

s. Rahel Jaeggi, Welt und Person: zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hanna Arendts. 1997

 
Daniela Dahn beobachtet in dem Zusammenhang eine “Duldungsstarre”. In:

Westwärts und nicht vergessen. 1998

http://ir.nmu.org.ua/bitstream/handle/123456789/142920/92e5bc6ef903ba4f86824d1e5e889dd9.pdf?sequence=1

 

s. auch Ch. Kruse, Krankheitseinsicht als höchste Form der Selbstbestimmung, hilfe Blätter von EREPRO Nr. 15, 2012 S. 23

 
Paul Verhaeghe schreibt in einem neoliberalismuskritischen Artikel:

“Das alles sind die Folgen eines Systems, dass die Menschen systematisch daran hindert, selbstständig zu denken und die Mitarbeiter eines Unternehmens nicht wie erwachsene Menschen behandelt.(…) Permanente Evaluationen am Arbeitsplatz führen zu einem Verlust von Autonomie und einer steigenden Abhängigkeit von externen Normen.” Er bezieht sich auf Richard Sennett.
Paul Verhaeghe, Der neoliberale Charakter. Der Freitag, 23.10.2014

 
39 s
. Irene Heidelberger-Leonard, Imre Kertész im Dialog mit Jean Améry. In: Dorothe Gelhard, Irmela von der Lühe, Hrsg., Wer zeugt für den Zeugen? Positionen jüdischen Erinnerns im 20 Jahrhundert. Berliner Beiträge zur Literatur und Kulturgeschichte Nummer 12, o. J. (2010/2011)

http://www.peterlang.com/download/extract/63058/extract_262107.pdf

 

“Für Kertész ist die ‚tragische Geste‘, d.h. die Tragödie, der Gegenbegriff zur Schicksalslosigkeit, denn „der Schicksallose sieht keinen Spalt in der Totalität, daher paßt er sich nolens volens an“.  …

“Der tragische Mensch dagegen ist fähig, diesen Spalt zu erblicken, allein er kann die Freiheit denken. Für Kertész bedeutet Freiheit die Freiheit der Selbstbestimmung.”

 
Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013: “…Erfahrung, in der das Subjekt den Spalt zwischen Freiheit und Unfreiheit, Souveränität und Ohnmacht durchläuft, um sich als autonom zu behaupten, während es seine Weltoffenheit gegen die lmperative des Tatsachengewebes kehrt.” S. 28

 

40 Jürgen Böttcher in der Diskussion über seinen in der DDR verboten Film “Jahrgang 1945”: Zur Begründung für das Verbot hieß es, der Film sei “zu persönlich”. Berlinale 2016.

 
41 David Riesmann, Die einsame Masse, 1950

http://www2.hu-berlin.de/sachbuchforschung/CONTENT/Artikel/Rezensionen/w004.htmluchforschung/CONTENT/Artikel/Rezensionen/w004.html

Hinweis in: Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, 20147   Dem Buch von Lethen sind Beschreibungselemente des Abschnitts “Schicksalslosigkeit” entnommen.

42 s. Pierre Legendre, 1999, Die Fabrikation des abendländischen Menschen. S. 55

Pierre Legendre, das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater. Lektionen 8, 1989, deutsch 1998. S. 149: “Ein mörderisches ‘acting out’, auch unter deliranten Bedingungen, impliziert nicht automatisch eine psychotische Struktur des Täters, ein deliranter Schub – ein mittlerweile akzeptierte Begriff – ist keine ausgebildete Psychose.”

 

s. Arnhild Köpcke und Sybille Prins, Fragmente zum Thema “Krankheit und Verantwortung”. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2007, S. 8

 

s. Daniel Boulet, Les faits et les fantasmes. À propos d’une affaire de parracide. Le juge et l’expert psy.
http://www.oedipe.org/fr/actualites/juge%20et%20expert

Laurent Mayali et Jasmine Samrad, Entre l’expert et le juge. La sciene des souvenirs refoulés dans le droit américain. Etude publiée dans e volume 2 des traveaux du Laboratoire européen pour l’Etude de la Filiation 2, 1998. S. 135 – 157.

43 Ein Bericht über die Bewältigung und Überwindung von Schicksalslosigkeit: s. Rosa Klimm, Ich lebte das Leben anderer. http://www.erepro.de/2016/03/02/ich-lebte-das-leben-anderer-rosa-klimm/

44 Diese “Kälte” wird beschrieben bei Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. 2014, 7. Auflage.

 

s. ähnliches Verhalten des Jokers  in dem Film “Dark Knight”, der Joker ist hier “ein ethikfreier, enthemmter, aber hochintelligenter Psychopath”.

zitiert nach Wikipedia

https://de.wikipedia.org/wiki/The_Dark_Knight#cite_note-12

 

Man spricht auch von der “coolen” Ästhetik der Bauhausarchitektur in dieser Epoche.

http://www.planet-wissen.de/kultur/architektur/bauhaus/index.html

 

45 Wolfram Schütte: “Absolutismus der Reinen”.

Schütte, Wolfram, Verteidigung der Bastarde. Salman Rushdies fundamentale Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus. Frankfurter Rundschau, 4.7.1992

 

46 s. Micha Hilgers, Springerstiefel sollen Halt vermitteln. Frankfurter Rundschau, 6.12. 1997: Der heutige Fremdenhass Rechtsextremer sieht das Fremde als das Verunreinigende.

 

47 Wolfgang Ruppert, Künstler im Nationalsozialismus: Die »deutsche« Kunst, die Kunstpolitik und die Berliner Kunsthochschule, 2015

Umfassende Aufklärung über die Nazi-Kunst in dem Film von Peter Cohen:” Architektur des Untergangs”, 1989:

“Schönheit” ist gleichzusetzen mit Gesundheit. Paul Schulze -Naumburg setzte die moderne (“entartete”) Kunst mit Geisteskrankheit gleich.

Man glaubte: Wenn der Arbeiter in puncto Sauberkeit auf einer Ebene steht mit den Büromenschen, wird er einsehen, dass es nichts mehr gibt, wofür er kämpfen müsste. Abschaffen von Schmutz und Chaos = keine Konflikte mehr.

https://absolutmedien.de/film/467/Architektur+des+Untergangs

Mit “Gesundheit” war die “Volksgesundheit” gemeint, nicht die individuellen Bedürfnisse des einzelnen Bürgers.

 

48 Das lässt sich gut beobachten in dem Roman von Ulrike Edschmid, Das Verschwinden des Philip, S. 2013. Über einen Freund der Autorin, der bei der RAF mitmachte.

 

s. Carolin Emcke, Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF. 2009, S. 40

 

49  s. Fraisse, Simone, Ajax ou l’honneur de l’homme.  ESPRIT, 12, 1963.

 

50 Diese Angst vor dem Triebhaften des Menschen, die sich Stabilität durch “Verhaltenslehren” verspricht, könnten Psychiater u.a. veranlasst haben, sich Leitlinien zu geben für den Umgang mit  (gefährlichen) psychisch kranken Menschen.

Das erinnert an die Darstellung von Helmut Lethen über die Verhaltenslehren im 17. Jahrhundert (unsichere Zeiten im dreißigjähriger Krieg) und in den schwierigen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg: “…Rückgriff auf die Idee der Notwendigkeit des äußeren Zwangs zur Kontrolle der gefährlichen Triebnatur und der Aktualisierung der stabilitätsfördernden Verhaltensregeln”.

Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. 2014, 7. Auflage. Seite 74

 

Knoll stellt bei Psychiatern eine double-bind-Wut fest, “da die Psychiatrie in der doppelten Verpflichtung der Ordnungskräfte auf der einen Seite und des Helfen-wollens auf der anderen Seite steht“. (…) “Der Prozess der double-bind-Wut und die Verarbeitung dieser Wut ist primärprozesshaft, also unmittelbar unbewusst.” (…) Das therapeutische Ziel muss sein, jenseits ritualisierter Ordnungsfunktionen eine weitgehende Befreiung von der Angst vor der eigenen Desintegration zu erlangen – eine Möglichkeit, die die uns Anvertrauten uns täglich spiegeln.”

M. Knoll, Über den Ursprung der Gewalt in der Psychiatrie – ein Beitrag zur double -bind-Wut. Psychiatrische Praxis 12, 1985, S.116 bis 123.

51 Psychiatrische Gutachten sind in der Regel im Tenor der objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis, eindeutiger und gültiger Wahrheit über eine Person verfasst.

s. Psychiatrische Begutachtung, ein praktisches Handbuch für Ärzte. 2008s. Legendre, Pierre, Das Verbrechen des Gefreiten Lortie, 1998, S. 147ff

52 s. “Wie ich in der Sozialpsychiatrie arbeite trotz meiner Schwächen.” Notizen aus einem unveröffentlichten Gespräch, EREPRO, 2004
http://www.erepro.de/2016/03/08/wie-ich-in-der-sozialpsychiatrie-arbeite-trotz-meiner-schwachen/

53 Hinweis von Klaus Dörner auf dem Kongress der DGVT 2016.

s. Karl Jaspers, Die Idee des Arztes. 1953.

 

54 Diese Gleichgültigkeit der Ärzte gegenüber unheilbaren Patienten kann ihnen vielleicht gar nicht ohne weiteres vorgeworfen werden. Klaus Dörner weist darauf hin, dass schon lange vor der Nazizeit die ärztliche Berufsordnung vorsah, dass  Ärzte sich nicht um unheilbare, chronisch kranke und sterbende Menschen kümmern sollten. Das war  Aufgabe der Familie oder der Pfarrer. (Bemerkung auf dem Kongress der DGVT 2016)

 

55 s. Ch. Kruse, 300 000 Menschen mit besonderen Belastungen getötet. 12.5.2014

http://www.erepro.de/2014/05/12/300-000-menschen-mit-besonderen-belastungen-getotet/

 

56 s. Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 31

s. Vorlesung Marcus Steinweg, www. youtube.com/watch?v=iBcbWiN7psA

57 Ein Beispiel für die Schwierigkeiten im Austausch:

Spiegel online spricht von einer “wortreichen Sprachlosigkeit” in der Maischberger Talkshow vom 26.1.2016, an der Frau Petry von der AfD teilnahm.

“Selten stieß eine derartige Veranstaltung immer wieder auf solch eine geradezu surreale Weise an die Grenzen des kommunikationstechnisch Machbaren.”

Die AfD wird dort charakterisiert als “Ein-Themen-Partei mit vornehmlich männlicher, von Ängsten geplagter Anhängerschaft.”

http://spon.de/aeFDV

Unterdessen liegen viele Beispiele für diesen Kommunikationsstil von AfD Mitgliedern vor.

 

58 Hanna Krall schildert in einem Roman Hinweise für eine Tochter über die Kunst des Überlebens: “Man muss sich von der Welt abkapseln. Wenn du mit der Welt und den Menschen verbunden bist, legst du die Verantwortung für dein eigenes Überleben ab und wirst abgelenkt. Du darfst keine überflüssige Trauer an dich heranlassen. Die Trauer könnte dich schwächen. Manche behaupten, dass nur die Schlechten und die Harten überlebt hätten, aber das stimmt nicht. Überlebt haben diejenigen, die sich entschieden haben Leiden und Mitgefühl nicht an sich heranzulassen.”

Krall, Hanna,  Die Untermieterin, 1985, deutsch 1986 u. 1990, S. 164

 

59 s. Volker Grassmuck, See cubed eye! Krieg und Medien, Simulation des Schreckens. TAZ, 10.12.1987.

Der Autor spricht von Paranoia als “operativer Schutz zum Überleben”.

 

s. Gast Ursula, Psychotraumatologie, Geschichte-Krankheitsbilder-Therapieansätze. 2004 öffentlicher Vortrag Bielefeld, S. 18

http://www.traumhaus-bielefeld.de/traumatherapie/vortrage-texte

 

s. Aaron Ben-Ze’ev, die Logik der Gefühle. 2009, S. 3  

 

60 Theaterstück von Sophokles, Ajax, ca. 449 v.C.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ajax_%28Sophokles%29.

 

s. Das Schwert des Aias. In: Jean Starobinski, Besessenheit und Exorzismus. Drei Figuren der Umnachtung, 1976, deutsch 1978, S. 9, S. 20

 

Heiner Müller schrieb ein Gedicht über Ajax.
henschel-schauspiel.de/media/media/theater/TI-1474_LP.pdf

s. Bilder und Zeiten, FAZ 29.10.1994

 

s. Ajax zum Beispiel. Hörspiel von Wolfgang Rindfleisch, Deutschlandfunk 8.2. 97

 

61 Über das Risiko der Lächerlichkeit als “Maskerade des virilen Nazismus”, s. Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. 2014, 7. Auflage. S. 85

 

62 aus: Jean Starobinski, Besessenheit und Exorzismus, 1978, S. 28

 

63 s. Legendre Pierre die Fabrikation des abendländischen Menschen, 1999, S. 20

 

s. Damian Thompson, Wie die USA ein Anwachsen uralter Ängste erleben, Frankfurter Rundschau 5. April 1997

 

Der frühere Außenminister von Frankreich brücksichtigte die mögliche Kränkung von Staaten!
Spiegel Online 13.12.2015 Axel Bojanowski, Paris, Historischer Weltklimavertrag. Zehn Gründe für das Wunder von Paris:
“Die größte Stärke von Fabius war es, so berichten es Delegierte, alle Staaten regelmäßig anzuhören. Staaten,
die sich übergangen fühlen (hervorgehoben von EREPRO), waren auf Klimaverhandlungen stets die größte Gefahr für eine Einigung. Die erstaunlich geringe Zahl von taktischen Einsprüchen zur Verzögerung der Verhandlungen in Paris scheint zu bestätigen, dass die meisten Staatenvertreter keinen Anlass für Blockaden sahen, weil sie stets Kontakt zur Verhandlungsführung hatten.

Um die größten Streitfragen zu klären, gründete er zehn Arbeitsgruppen – und machte ausgerechnet jene Staaten zu Gruppenleitern, die das jeweilige Thema am meisten blockierten. In der Verantwortung suchten sie dann eine Lösung.”

 

64 s.  ARD, Planet Wissen, Neuzeit, Hexenverfolgung:

http://www.planet-wissen.de/geschichte/neuzeit/hexenverfolgung/pwwbhexenverfolgung100.html

 
Rainer Decker, Hexen. Magie Mythen und die Wahrheit. 2004.

https://www.youtube.com/watch?v=5U44PAyhWRk

 

Habermas, Rebecca, Fremder und doch vertrauter. Mit psychoanalytischen Methoden gelingt Lyndal Roper ein neues Bild des Hexenwahns in der frühen Neuzeit. Frankfurter Rundschau 20.3.2007

 

Lyndal Roper, Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung. 2007

 

65 s. Helmut Lethen, Suche nach dem Handorakel, 2012

Zur Rezeption von Lethens Thesen und seiner Autobiographie

s. Franka Maubach, Vom Nutzen der Kälte, Der Freitag, Nr 47, 22.11.2012:

Hier ist die Rede von der “Selbstüberhebung des Subjektes in der ‘heroischen Moderne’ vom ersten Weltkrieg bis zu den politischen Kämpfen um ‘68’ … die Bezogenheit auf das vermeintlich heroisch handelnde Subjekt, das sich durch seine und seinesgleichen Tat Erlösung schon auf Erden verspricht.”

Ein besonderer Tatendrang kann aus einer Erniedrigungssituation hervorgehen – auch  aus Mitleid mit “Proletarierinnen”,  Heimkindern und sonstigen Ausgegrenzten, wie bei Ullrike Meinhoff, Mitglied der RAF.

Der eigene Wille als persönlicher, direkter Einfluss im großen Stil als Reaktion auf die Erniedrigungen während der Nazizeit. Der Tatendrang aus einem Effektivitätswahn heraus, nachdem sie sich ihrer richtigen Einschätzung der Analyse der BRD Verhältnisse sicher war. Sie wollte die Geschichte positiv beeinflussen und nicht feige zurück bleiben wie die Elterngeneration. Tatendrang der RAF im Gefolge von Hitlers Tatendrang?

Einwirken und Wachsenlassen war damals fast nicht möglich, angesichts der furchtbaren

Morde der Nazis.

 

Andre Veiel im Interview mit Harry Nutt:

“Ich glaube, dass sich Gewaltverhältnisse nicht einfach aus sich selbst auflösen. Traumatisierungen (durch die Nationalsozialisten) können eben auch durch Schweigen von Generation zu Generation weitergegeben werden. So gesehen ist diese Zeit (RAF) lebendiger als uns bewusst ist.”

Der anhaltende Kick der Tat. Über die Gewalt der Zwickauer Terrorzelle. Frankfurter Rundschau 14.11.2011

 

Jana Hensel, Zonenkinder, 2004. Beschreibung der Unsicherheit Ostdeutscher bei der Wiedervereinigung, die teilweise verbunden war mit einem Gefühl des Auserwähltseins.

 

66 s. dazu: Das hat ein Nachspiel. Der Theaterregisseur Milo Rau über den Kulturkämpfer Anders Breivik und sein Theaterprojekt zu dessen Rede. Frankfurter Rundschau. 25.1.2012.

s. Schmölders, Claudia, Führers Stimme. Das rhetorische Attentat oder: zur auditorischen Seite der Politik. Frankfurter Rundschau, 20 November 1999. Sie zitiert Carl Schmidt, “nicht Rede und Antwort, sondern Rede und Entscheidung seien politisch relevant”.

und: “Diese Reden (von Hitler) zielten auf ein spezifisches Zum-Schweigen-Bringen, aus dem heraus zu Handlung geschritten werden könnte.

S. Cohen, Peter, Architektur des Untergangs, Film, 2014.

Hitler schritt  vom Wort zur Tat, ohne Hemmungen setzte er eine absurde Ideologie in eine entsetzliche Wirklichkeit um.

Lethen schreibt in einer Seminarankündigung, “dieser Kurs soll eine Traditionslinie der modernen Literatur, die sich als klinisch, kalt oder antisentimental ausgibt, vorstellen, die Funktion des Habitus der  Kälte in verschiedenen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts ( Medizin, Psychiatrie, Soziologie) und das Fortleben die Kälte-Rhetorik in  Politik und Lifestyle untersuchen.”
https://vv.unilu.ch/details?code=FS121188

Bei Ernst Jünger und Bertold Brecht und bei anderen Intellektuellen der Weimarer Republik wie Helmut Plessner und Carl Schmitt beobachtet Lethen eine “Kälterhetorik” und “‘Kältekulturen’, die das Individuum gegen die empfundenen Unsicherheiten unanfechtbar machen, durch eine innere Rüstung panzern und schützen sollte.” Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, 20147 

67 s. Ralf Schnell, Dichtung in finsteren Zeiten, 1998, S. 106f, 117f

“Richard Euringers Deutsche Passion 1933 ist durchgängig dualistisch strukturiert durch das unversöhnliche Widerspiel des “Bösen Geistes” und des “Guten Geistes”. Führt der “Gute Geist” zuletzt die deutsche Sache zum Sieg, so liegt auf der anderen Seite des “Bösen Geistes” alle Finsternis und Deutschfeindlichkeit, alle Brutalität und aller Zynismus versammelt.”

68 s. Legendre, Pierre, Gesellschaft als Text, dtsch 2012, S.76 ff.

Diese Grenzüberschreitungen der Medizin sind nicht spezifisch beispielsweise für die Forschungen der Nationnalsozialisten in den KZs, sondern auch der modernen Medizin.

 

69 s. Walter Schmidt, Papa macht das schon. http://www.schmidt-walter.de/artikel/papa-macht-das-schon

 

Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf Hitler ist nicht auf diesen einfachen Nenner zu bringen. Kershaw betont die Schwierigkeiten für Historiker diese überhaupt zu ermitteln.

s.Kershaw, Ian, Der Hitler-Mythos: Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich.

2000, Einleitung.

 

s. Interview mit Peter Longerich im Deutschlandfunk über seine neue Hitler Biographie: “Hitler”. 2015

http://www.deutschlandfunk.de/neue-hitler-biografie-wir-duerfen-nicht-die-letzten-opfer.694.de.html?dram:article_id=336700

 

s. dazu auch Sebastian Haffner, Germany: Jekyll & Hyde. 1940, Deutsch 1996, Seite 28 ff.

Ab S. 100 bringt Haffner eine differenzierte Beschreibung der “loyalen” und “illoyalen” deutschen Bevölkerung in der Nazizeit.

 

Starobinski weist darauf hin, dass Jesus eine solche Unterwürfigkeit seiner Anhänger nicht wollte.
Als der Besessene, dem Jesus den Teufel austrieb und in Schweine fahren ließ, bald danach wieder ins Extrem tendierte, indem er sich Jesus völlig unterwarf, bewahrte  Jesus Distanz, sprach ihn an und trieb ihn zur Entscheidung. Er setzte ihn dann allein als Missionar an einem anderen Ort ein, und förderte so seine Eigenständigkeit. Jean Starobinski, Besessenheit und Exorzismus, 1978, S. 85, 116

s. E. C. Gründler, Grenzen der Sinnsuche. TAZ 15./ 16. April 2000

 

70 “…da bin ich größer als die Bibel! Es steht zwar in der Bibel, aber schließlich
muss ich das wissen, was aus Gott wahr ist, nicht was ein Mann einmal vor 2000 Jahren so und so ausgedrückt hat. Es muss in Christus etwas Totales für die Welt wahr geworden sein, und mein Glaube muss so stehen, dass es dieses Ganze ergreifen kann.”

Christoph Blumhardt, Sohn, Predigten und Andachten Band 3, S. 248, zitiert nach Baldur Gscheidle, Johann Christoph Blumhardts „Kampf gegen die Geister“. Wer beeinflusste sein Denken und Wirken? o.D. Gscheidle-Blumhardt-wdw-EF,pdf

Gscheidle beschreibt von einer christlichen Insiderposition aus den Exorzismus und seine Geschichte einschließlich der Hexenverbrennungen. Er geht auf den Spiritismus von C.G. Jung ein und schildert das familiäre Umfeld des Analytikers, in dem Geisterbeschwörung und Gespräche mit Verstorbenen zum Alltag gehörten.

In diesen spiritistischen Geschichten kommen immer besonders kompetente Personen mit medialer Begabung vor, ebenso wie abgelehnte Menschen, die als von Dämonen besessen gelten. Wenn diese aufeinandertreffen, tendiert das kompetente Medium dazu, in seiner Allwissenheit den “Besessenen” so einzuschränken, dass dieser Schaden nehmen kann.

 

s. Requiem, 2006, Film von Hans Christian Schmid.

 

71 s.http://www.dasheilgeheimnis.de/baerbel-mohr-krebstod-nach-burn-out

Hier geht es um eine Frau, die Bestellungen an das Universum von Hilfe suchenden Menschen entgegen nahm und so Wunscherfüllung ermöglichte. Sie versandte sogar Reklamationen an das Universum, wenn die gewünschte Wirkung nicht eintrat und verdiente mit dem ganzen Zinnober viel Geld.

 

72 Beispiele für die Rote Khmer:

http://www.genocide-alert.de/interview-daniel-bultmann-kambodscha/#.VpI6_R4xlpU

 

73 s. Sebastian Haffner, Germany: Jekyll & Hyde. 1939 – Deutschland von innen betrachtet, 1940 deutsch 1996, S. 20.

 

74 Ralf Schnell, Dichtung in finsteren Zeiten, 1998: Seite 45 “Der Führer. Denn  Führen heißt: Massen bewegen können. Adolf Hitler (Mein Kampf, S. 650)”.

 

s. Noam Chomsky, Media Control, 2002.

http://www.thirdworldtraveler.com/Chomsky/MediaControl_excerpts.html

 

75 Pol Pot selber hatte – als Bedingung für die Niederlegung der Waffen – gefordert, dass die Geschichte seiner Regierungszeit in Kambodscha nur in seiner Version erzählt werden dürfe. Bei der Gestaltung der kambodschanischen Schulbücher, hält man sich bis heute daran.

s. Ideologie und Irrtum. Die Roten Khmer und die Linke. Bettina Huber im Gespräch mit Gerd Koenen, Kommunismusforscher,  Nico Meisterhaft, Filmemacher und Gründer des Meta House in Pnom Penh, Hannes Riemann, Historiker und Spezialist für die Rezption der Roten Khmer in der DDR, Michael Sontheimer, Journalist und Historiker und Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste. 56. Akademie-Gespräch. 5.2.2015

http://www.adk.de/de/presse/pressemitteilungen.htm?we_objectID=34070

 

76 Gedanke von Mihran Dabag, den er vortrug auf der Konferenz,  Aghet und Shoa. Das Jahrhundert der Genozide, in der Topographie des Terrors, Berlin, 8.-10.11. 2015

 

Die Nationalsozialisten haben sich beispielsweise das überlieferte Wissen über Hexen für ihre Zwecke zurechtgelegt und interpretiert. s.  ARD, Planet Wissen, Neuzeit, Hexenverfolgung:

http://www.planet-wissen.de/geschichte/neuzeit/hexenverfolgung/pwwbhexenverfolgung100.html

 

77 s. Hans-Christian Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik – Der Mythos von der sauberen Verwaltung, Oldenbourg, München 2012

 

s. Götz Aly, Hitlers Volksstaat, 2005

 

78 Sebastian Haffner weist auf Hitlers dreifaches Scheitern hin: “Zuerst stieß ihn die Bourgeoisie und dann das Proletariat aus ihrer Gemeinschaft aus, schließlich spie der Pöbel ihn aus seiner Unterwelt in den unsagbaren Acheron (EREPRO: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Acheron).

Diese dreimalige Verurteilung durch die Gesellschaft ist ein vernichtender Beweis dafür, was dieser Mann in Wirklichkeit wert ist. (…)

(Hitler), der in einer Münchner Dachkammer Mäusen beibringt nach Brotkrumen zu springen, und der sich bei diesem Amüsement wilden, blutrünstigen um Macht, Rache und Vernichtung kreisenden Fantasien hingibt. Es ist ein furchterregendes Bild, und es kann einen durchaus bei dem Gedanken schaudern, aus dem Abschaum der Großstädte (…) könnte ein zweiter Hitler zum Vorschein kommen, ein Mann der von tiefster Enttäuschung und vom Machtwillen getrieben bis zum Äußersten geht…”

Sebastian Haffner, Germany: Jekyll & Hyde. 1939 – Deutschland von innen betrachtet. Englische Originalausgabe 1940, deutsche Erstausgabe 1996. S. 15, 16 f

 

79 Sebastian Haffner, Germany: Jekyll & Hyde, 1940, Seite 21f

 

80 Franz Fanon – auch er von revolutionärer Wut ergriffen über den Kolonialismus in Algerien – setzte seine Hoffnung – wie Che Guevara und Mao Zedong – ebenso auf die ländlichen Massen als revolutionäre Fermente.

“Wir zählen nicht, wenn wir nicht zunächst Sklaven einer Sache sind”. Alice Cherki porträtiert Franz Fanon, den Vordenker der afrikanischen Unabhängigkeit als zwiespältigen Revolutionär mit postkolonialen Vorahnungen. Frankfurter Rundschau 19.6.2001

 

81 s. Silke Studzinsky: Deutsche Anwältin am Rote-Khmer-Tribunal. Oktober 2011 in einer ZFD-Sonderbeilage der taz.

https://www.ziviler-friedensdienst.org/de/beitrag/silke-studzinsky-deutsche-anwaeltin-am-rote-khmer-tribunal

und

Das fehlende Bild, Dokumentarfilm des kambodschanischen Regisseurs Rithy Panh von 2013. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_fehlende_Bild

 

82 Hinweis auf Parallelen bei dem brutalen, menschenverachtenden Regime des IS:

In dem Artikel “It’s Paul Krugman vs. Noam Chomsky: This is the history we need to understand Paris, ISIS.” Salon vom 18.11.2015, findet sich der entsprechende Hinweis auf die nostalgische Geschichtsverklärung in Bezug auf den Irak und IS:

“What persists from this period, at least among some, is a nostalgia for the greatness of golden age of the caliphates (thought to have begun in the 8th century) and all their scientific, intellectual and cultural achievements.”  http://www.salon.com/2015/11/18/its_paul_krugman_vs_noam_chomsky_this_is_the_history_we_need_to_understand_paris_isis/?utm_source=twitter&utm_medium=socialflow

 

83 Navid Kermani, 18. Oktober 2015.Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015. Börsenblatt vom 22.10 2015, S. 30.

84 “institutioneller Rassismus verweigert bestimmten Gruppen Vorteile und Leistungen oder privilegiert andere.” https://de.m.wikipedia.org/wiki/Rassismus

85 Die von Pol Pot eingeladenen Journalisten kritisierten das Regime nicht. Einzig Petra Kelly thematisierte damals die Menschenrechtsverletzungen. s. Ideologie und Irrtum. Die Roten Khmer und die Linke. Bettina Huber im Gespräch mit Gerd Koenen, Nico Meisterhaft, Hannes Riemann, Michael Sontheimer und Klaus Staeck. 56. Akademie-Gespräch.

http://www.adk.de/de/presse/pressemitteilungen.htm?we_objectID=34070

 

s. Pol Pots Lächeln, Dezember 2015. Recherchen zum guten Glauben:
“Die siebziger Jahre. Es gärt unter der Oberfläche der westlichen Gesellschaften. Da stürzt im fernen Kambodscha ein korruptes Regime, und die kommunistischen Roten Khmer rufen den neuen, gerechten Staat aus. Manche Gruppierungen der westlichen Linken waren begeistert von diesem Aufbruch, einige durften ins Land rein und sahen das Gute mit eigenen Augen.
Wie gehen wir damit um, wenn wir zugeben müssen, dass wir vor Ort waren, aber das Entscheidende nicht gesehen haben? Am Ende der Schreckensherrschaft von Pol Pot und seiner Roten Khmer lagen auf den killing fields hundertausende Tote. Mehr als 1,7 Millionen Menschen starben durch Hunger, Zwangsarbeit und Hinrichtungen.”
Im literarischen Bericht „Pol Pots Lächeln“ untersucht Autor Peter Fröberg Idling die Blindheit einer schwedischen Delegation von 1978, die nichts vom staatlichen Terror mitbekam. Ihre optimistischen Berichte aus Kambodscha fielen im Westen auf fruchtbaren Boden. Der Vietnamkrieg und die Politik der USA mobilisierten Unzählige. Tagsüber wurde auf den Straßen für Frieden und gegen die imperialistische Ausbeutung demonstriert; nachts diskutierte man und verfasste Flugblätter, studierte Marx und Mao, sammelte Geld für die fernen Befreiungskämpfe.
Wie sehr verstellt unsere Absicht unseren Blick? Die Schauspielerin Anne Hoffmann und die Regisseurin Ruth Messing versuchen zu verstehen und begeben sich ausgehend von Idlings Reportage auf eine Spurensuche hierzulande und im heutigen Kambodscha; sie rekonstruieren in Berichten, Zeugenaussagen und Reisetagebüchern jene Verschiedenheit der Perspektiven, die schwindlig macht.”

http://www.theaterdiscounter.de/stuecke/pol-pots-laecheln

 

86 s. Kurz, Robert, One World und jüngster Nationalismus. Warum der totale Weltmarkt die ethnische Barbarei nicht verhindern kann. Frankfurter Rundschau 4.1.1992

und

Kurz, Robert, Der Kollaps der Modernisierung. 1991

 

87 Anselm Franke, “Weil… Funk you”, TAZ 20.2.2016: “Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass wir gerade alle verrückt werden. Dazu gehört die Einlassung eines SPD-Politikers, einen Teil der Bürgerinnen und Bürger als „Pack“ zu bezeichnen. Die Feststellung einer AfD-Politikerin, die deutsche Grenze müsse „notfalls“ mit Waffengewalt gegen Flüchtlinge gesichert werden. Die Bemerkung eines CDU-Politikers, er würde sich „erschießen“, wäre er mit dieser „komischen“ AfD-Politikerin verheiratet.” http://www.taz.de/!5276790/

 

88 s. Haus der Kulturen der Welt, Kongress Zivilgesellschaft 4.0, 3.3. -5.3.2016

“Gemeinsam bilden Geflüchtete, Freiwillige und Unterstützer*innen die neue Zivilgesellschaft.
Für die Selbstorganisation sind besonders digitale Werkzeuge entscheidend. Was muss heute angepackt werden? Welche Herausforderungen müssen gemeistert werden? „Zivilgesellschaft 4.0. – Geflüchtete und digitale Selbstorganisation“ bringt Geflüchtete, Aktivisten, Entwicklerinnen, Theoretiker und Künstlerinnen zusammen, um Strategien zu entwickeln und kritisch über die aktuelle Situation zu reflektieren.”

https://hkw.de/de/programm/projekte/2016/civil_society_4_0/civil_society_4_0_start.php

 

s.Orientierungsosigkeit ist kein Verbrechen, 2014, Film von Marita Neher und Tatjana Turanskij.
http://turanskyj-ahlrichs.com/filme/athen

 

89 Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 135, 140, 141, 145

 

90 Rousseau spricht kritisch von der “‘Sucht alles zu wissen’, der Religion des Zu-wissen-Glaubens auf dessen Grundlage alles schon im Voraus legitimiert ist.”

s. Pierre Legendre über die Gesellschaft als Text, 2001, Seite 76.

 

“…typisch abendländische Standards (…), die sich in großer Zahl in der globalisierten szientistischen Propaganda finden. (…) ewiger Fortschritt, Selbstveränderung (des menschlichen Subjekts) praktischer Optimismus, intelligente Technologie, offene Gesellschaft, Selbstbeherrschung des Individuums, rationales Denken. Anmerkung: Extropy Institute,  The Extropian Principles. Version 3.0. Transhumanist declaration, Sunnyvale (Ca) 1999 (…)”

Pierre Legendre, Über die Gesellschaft als Text, 2012. Seite 72

 

91 Im Zusammenhang mit einer Bildbesprechung von Hieronymus Boschs “Hölle” fragt John Berger nach dem Zeitgeist im Jahrhundert der Globalisierung:

“Jede seiner Figuren sichert ihr Überleben, indem sie sich auf ihre engsten Bedürfnisse konzentriert. Die Platzangst entsteht nicht durch Überbevölkerung, sondern weil zwischen einer und der nächsten Handlung nichts steht, das beide berührend, eine Kontinuität herstellen kann. Und das ist die Hölle. Unsere Kultur ist vielleicht die klaustrophobischste, die je existierte; es ist die Kultur der Globalisierung, die wie Boschs Hölle keinen Blick auf ein Anderswo oder Anderswie zulässt. Das Vorhandene schließt sich zum Gefängnis. Und angesichts solche Beschränkung schnurrt die menschliche Intelligenz zu schierer Gier zusammen.”

Berger, John, Gegen die große Niederlage der Welt. In Betrachtung der “Hölle” von Hieronymus Bosch, Frankfurter Rundschau 31.10.1998

 

Helmut Draxler, Phantasma und Politik, Berliner Gazette 10.11.2013 (Das Berliner Theater HAU hat in Zusammenarbeit mit Helmut Draxler “Phantasma und Politik” konzipiert.)

…“Vielmehr erwartet, fordert und genießt dieses (EREPRO: Theater-)Publikum etwas, das man in den 1980er Jahren einen „Entfremdungsgewinn“ genannt hatte, d.h. es will in seinem Differenzbedürfnis bestätigt werden, sich darin engagiert, emanzipiert, herausgefordert und erfahrungshungrig fühlen dürfen.” (Hervorhebung von EREPRO)
http://berlinergazette.de/phantasma-und-politik/#.UpEEResucrc.email

In der Ankündigung der Konferenz “Phantasma und Politik” hieß es

“Angesichts der vielfältigen Katastrophen an den Finanzmärkten und in der Weltpolitik wird der Ruf nach einer Kunst laut, die diese Entwicklungen nicht nur beschreibbar macht, sondern auch in eine als krisenhaft wahrgenommene ‘Wirklichkeit’ eingreift. Symptomatisch für diese Sehnsucht nach dem Realensind die aktuellen Ausgaben der Berlin Biennale…

http://www.hebbel-am-ufer.de/mediathek/audio/phantasma-und-politik0/

 

Ein ganz praktisches Beispiel für Schicksalslosigkeit (?):

Anziehend. Immer mehr Menschen lassen sich für ihre Garderobe von einem Profi beraten. Der Einzelhandel setzt Hoffnungen auf diesen Trend, SZ 10.12.2015, S. 23

 

92 s. Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. 2014, 7. Auflage(!)

 

93 Aus dem Abschiedspapier bei Auflösung der RAF vom 20.4. 1998:

“In dieser Zeit – das Konzept (der RAF, EREPRO) der achtziger Jahre war wenige Jahre alt – gab es auch eine Entwicklung auf unserer Seite, die von einer manchmal mit demonstrativ kalter Konsequenz ( von EREPRO hervorgehoben) betriebenen Politik geprägt war, die dann tatsächlich nicht mehr war als “Politikmachen” – zu weit entfernt von allem, was Befreiung ist.”   http://www.rafinfo.de/archiv/raf/raf-20-4-98.php

 

94  Wilhelm Heitmeyer, (Herausgeber), Deutsche Zustände: Folge 10, 2011

Heitmeyer spricht von dem “entsicherten Jahrzehnt”, weil Zukunftssorgen und politische Apathie messbar zugenommen hätten. Es herrsche das Gefühl vor, in einer Krisensituation zu leben. (…) Wer sich und seinen Status bedroht fühle, der sei aber auch eher geneigt, andere Menschengruppen abzuwerten. (…) Überhaupt würden 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung sogar Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele billigen. Zwar sei die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, eher bei Jugendlichen anzutreffen. Doch gebilligt werde sie auch von älteren Menschen über 65.

http://www.taz.de/!5105531/

 

95 Georg Seeßlen, Wer, mit wem, auf welche Weise, worüber? Der Freitag 9.12.2015.

 

Auch Klaus Hurrelmann zeigt wenig Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit rechtsradikalen Jugendlichen im Jahr 1992.

s. “Die haben richtig Angst”. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann über den Umgang mit Randalieren und Rechtsextremen. Der Spiegel 43/1992

 

Michael Jäger, auch geboren in den 40er Jahren, zweifelt etwas an der Gesprächsablehnung: “die oft zu hörende Ansicht mit Pegida sollte nicht gesprochen werden, ist vielleicht doch nicht richtig. Wäre der Versuch sie diskursiv in die Enge zu treiben nicht besser?”

Michael Jäger, Menschen und Gutmenschen. Unwort des Jahres. Der Freitag 14.1.2016

 

Ganz anders die 20 Jahre jüngere Carolin Emcke:

“ wenn wir die Würde des Menschen nicht nur in selbstverliebter Pose zitieren, sondern sie wirklich respektieren würden, dann müssen wir sie jedem zubilligen, auch denen, die sie anderen nicht zugestehen.”

Carolin Emcke, Stumme Gewalt, 2002, Seite 135

 

s. Kertész, Imre, Opfer und Henker. Darin: Ich, der Henker. S. 36:

“und wenn ich (der Henker EREPRO) jetzt bescheiden, aber bestimmt mein Recht, Mensch zu sein, anmelde, meinen Anspruch auf für alle Gültiges, wollen Sie nichts von mir hören und wenden im Namen der Moral den Blick von mir ab, damit ich Ihnen auch bloß nicht das geringste Verständnis oder Mitgefühl abnötige – das heißt: damit Sie sich bloß nicht im Geringsten selbst in mir erkennen.”

1968, in einem Gespräch zwischen Rudi Dutschke, Ernst Bloch und anderen, wurde das Thema diskutiert anhand des Spruches von Rosa Luxemburg “Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden”. Dutschke: Sie meint nicht  die Freiheit des Faschisten, sondern sie meint damit die sozialistische Interpretation nach der Revolution, die multidimensional ist.

Trotzdem bekennt Dutschke sich nach einem Einwand von Flechtheim zur “produktiven Toleranz”.

s. “Heiterkeit in die Revolution bringen”. Aus dem Protokoll einer Diskussion mit Ernst Bloch und Rudi Dutschke in Bad Boll. Der Spiegel 10/1968, S. 38

 

96 Jörg Magenau, Zu gut gemeint. Literaturkritik. Echte Kunst ist absichtslos. Mein Abschied von der Gesinnungsethik. Der Freitag, 5.11.2015.

 

97 Adorno Theodor, Minimal moralia, 1944/45

 

98 Es gab damals bei Akademikern eine Quasi-Vertrautheit zwischen ihnen und diesen RAF Mitgliedern. Wir weisen auf einen möglichen Zusammenhang von Erniedrigung vieler Menschen im Nationalsozialismus, mit denen man sich identifiziert hatte, und der Gewaltbereitschaft der RAF in einer Generation von Nachgeborenen, die auch noch für den Holocaust verantwortlich gemacht wurde.
Den unerbittlichen Willen bei der deutschen Jugend in den 50er/60er Jahren, es besser zu machen als ihre Eltern im Nationalsozialismus, kann man auch als grundlegend für die Entstehung der RAF vermuten:

“Zugrunde lag ursprünglich ein Glaube an die mögliche Menschlichkeit eines Staates, eigentlich ursprünglich sogar an eine grundsätzlich positive Ausrichtung dieses neuen Nachkriegsstaates, an eine Gesellschaft, die man nach dem Krieg baut, indem man rechtzeitig auf neuerliche (faschistische) Fehlentwicklungen verweist und sie bekämpft.”

 Von Ulrike Meinhoff wird berichtet, dass sie nach der ersten Terrortat sagte, die Geschichte wird zeigen, ob es richtig oder falsch war, Gewalt anzuwenden. Es war falsch. Es fehlte die Aufhebung der Tat in einem Dritten, Belege für diese Vermutung und ihre Differenzierung in der Auseinandersetzung  mit der Geschichte der Bundesrepublik stehen noch aus.

 

Carolin Emcke schildet die verschiedenen RAF Generationen in Stumme Gewalt, 2009, S. 199 f

 

Einige Zitate aus dem Abschiedspapier bei Auflösung der RAF vom 20.4.1998:

http://www.rafinfo.de/archiv/raf/raf-20-4-98.php

 

“Der bewaffnete Kampf war die Rebellion gegen eine autoritäre Gesellschaftsform, gegen Vereinzelung und Konkurrenz. Er war die Rebellion für eine andere soziale und kulturelle Realität. Im Aufwind der weltweiten Befreiungsversuche war die Zeit reif für einen entschiedenen Kampf, der die pseudonatürliche Legitimation des Systems nicht mehr akzeptiert und dessen Überwindung ernsthaft wollte.  …

Die RAF ist an der sozialen Frage nicht identifizierbar gewesen. Ein Grundfehler.  …

 

Die ‘richtige Linie’, die Aspekte des Lebens außer acht lässt, weil sie dafür nicht effizient zu sein scheinen, ist ebenso unbrauchbar wie die Suche nach d e m revolutionären Subjekt. Das Befreiungsprojekt der Zukunft kennt viele Subjekte und eine Vielfalt von Aspekten und Inhalten. …

 

Wir brauchen eine neue Vorstellung, in der die vielleicht unterschiedlichsten Einzelnen oder soziale Gruppen Subjekte sein können, und die sie trotzdem zusammenbringt. …

 

Die Freude, ein umfassendes, ein antiautoritäres und dennoch verbindlich organisiertes Projekt der Befreiung aufzubauen, liegt noch unverbraucht, und vor allem noch wenig versucht vor uns. …

 In der sozialen Zerstörung dieser Gesellschaft, die eine Voraussetzung für den Völkermord der Nazis war, ist bis heute die Gleichgültigkeit gegen den/die andere/n ein wesentliches Moment. Die RAF hat nach dem Nazi-Faschismus mit diesen deutschen Traditionen gebrochen und ihnen jegliche Zustimmung entzogen. Sie kam aus dem Aufbruch dagegen. …

Wir denken an alle, die überall auf der Welt im Kampf gegen Herrschaft und für Befreiung gestorben sind.  Die Ziele, für die sie sich einsetzen sind die Ziele von heute und morgen bis alle Verhältnisse umgeworfen sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes,  ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.”

99 Botho Strauß, Der letzte Deutsche. Glosse. Der Spiegel 41/2015, S.122

 

100 s. Pierre Legendre, Die Fabrikation des abendländischen Menschen, 1999, Seite 60

 

101 Darstellung nach Pierre Legendre, Die Fabrikation des abendländischen Menschen, 1999, S. 54f. Er verweist ausdrücklich darauf, dass die Aussagen über “Väter und Söhne” genderunabhängig sind.

 

s. Ausstellung “Gehorsam” im Jüdischen Museum Berlin von Saskia Boddeke & Peter Greenaway. Mai bis November 2015

http://www.jmberlin.de/main/DE/01-Ausstellungen/02-Sonderaustellungen/2015/akeda.php

Margret Kampmeyer und Cilly Kugelmann, Bindung Opferung Schlachtung oder das Ereignis, das nicht stattgefunden hat. Einleitung zum Ausstellungkatalog.

http://www.jmberlin.de/main/DE/Pdfs/Sonderausstellungen/Einleitung_Gehorsam.pdf

 

102 s. Universität Frankfurt/Main, Veranstaltung Wintersemester 2004/2005: „Es genügt nicht, Menschenfleisch herzustellen“. Der Rechtstheoretiker, Rechtshistoriker, Jurist Pierre Legendre. https://www.jura.uni-frankfurt.de/44314756/WiSe200405

 

103 s. Sonderausstellung Jüdisches Museum Berlin “Gehorsam”, 2015, über die Geschichte von der Opferung Isaaks durch Abraham.

 

s. Einleitung im Ausstellungskatalog:

Bindung, Opferung, Schlachtung oder das Ereignis, das nicht stattgefunden hat. von Margret Kampmeyer und Cilly Kugelmann

http://www.jmberlin.de/main/DE/Pdfs/Sonderausstellungen/Einleitung_Gehorsam.pdf:

“In diesem Gehorsamsbegriff, wie er uns in der Akeda-Erzählung (Bindung Isaaks, EREPRO) begegnet, ist das Vertrauen ebenso wie die Gottesfurcht enthalten.” S.12,

“Heute steht die Geschichte (von Abraham und Isaak, EREPRO) jenseits von Religion und Philosophie für menschliche Grenzerfahrung.” S. 13

 

s. dazu auch Pierre Legendre, Die Fabrikation des abendländischen Menschen, 1999, S. 54 f

 

s. Slavoj Žižek, 1994, Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor. S.163f, zitiert nach Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 69.

 

104 Carolin Emcke, Stumme Gewalt, 2009, S. 143: “Das jedoch ist die eigentliche terroristische Bedrohung, möglicherweise nachhaltiger und gefährlicher als die traurigen Verluste unschuldigen Lebens, nämlich dass es den Fanatikern gelungen sein könnte, uns im Kern unseres Selbstverständnisses zu treffen und eine Reaktion zu provozieren, in der wir uns bar all jener demokratischen und liberalen Werte zeigen, von denen wir behaupten, dass sie uns ausgezeichneten. Dies ist jedoch eine Bedrohung, die wir innerhalb nicht außerhalb unserer Gemeinschaft bekämpfen müssen.”

 

105 Avishai Margalit verurteilt diese Form “institutioneller Demütigung”. Staaten mit ihrem Gewaltmonopol haben sowohl normativ als auch faktisch ein besonders großes Potenzial für institutionelle Demütigung, mit institutionellen Praktiken, durch die Menschen behandelt werden, als ob sie subhumane Wesen seien. Er fordert den “anständigen” Staat.

Avishay Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, 1997

 

106 Götz Eisenberg, Die menschlichen Ungeheuer entspringen unsere Normalität. Nach dem Amoklauf von Erfurt. Frankfurter Rundschau 11.5.2002

 

Der anhaltende Kick der Tat. Harry Nutt interviewt Andres Veiel. Frankfurter Rundschau,  24.11.2014

 

s. Eric Hoffer,  Der Fanatiker und andere Schriften. 1999

 

107 s. Sighard Neckel, Kampf um Zugehörigkeit. Frankfurter Rundschau 15.07 2003

 

108 Der Psychiater Klaus Dörner, der vor einer Vergötzung der Medizin warnt, weist immer wieder auf die Wichtigkeit des  “selbstvergessenen Weggegebenseins” für die Gesundheit hin. Dörner, Klaus, Die Gesundheitsfalle. 2003, S. 59

 

s. auch Gespräch: Annabelle Seubert, “Wichtig ist, unglücklich zu sein”. ARS VIVENDI. Der viel beschäftigte Philosoph Wilhelm Schmid erklärt, warum Arbeit nicht alles ist. TAZ 19.07.2014:

“Das ist mit das Schönste, das man beim Arbeiten erreicht: Selbstvergessenheit, Zeitvergessenheit, Allverbundenheit.”

109 Gedicht des Malers, Grafikers und Dichters Dieter Kühn, Augsburg, 1986

 

110 Die Sicherheit, die diese Gemeinschaften vermitteln, versucht man in der Psychiatrie auch entwurzelten psychisch kranken Menschen zu bieten: Die Herzogsägmühle, eine traditionsreiche ”Anstalt” der Bayerischen Diakonie, nennt sich “Ein Ort zum Leben”. Es gibt ans Dorfleben angeglichene Einrichtungen, zeitweilig sogar einen Bürgermeister.

 

Auch einige Sozialpsychiatrische Dienste in Bayern versuchen ein Gemeinschaftsleben für die Patienten zu entwickeln, dem sie sich zugehörig fühlen können, und vermitteln dadurch Sicherheit.

s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 11 “Sozialpsychiatrische Dienste – ein Luxus für reiche Zeiten?” und Artikel in den Ausgaben 9,10, 12,13 und 14.

 

Das Windhorse Projekt in USA, Österreich und Deutschland setzt ebenfalls diese Möglichkeit therapeutisch ein. Es wurde gegründet von Edward Podvell, einem Psychiater und buddhistischen Mönch. Um ihn geht es auch in dem Film “Someone beside you” von Edgar Hagen.

http://www.someonebesideyou.com/de/index_d.html

http://www.windhorse.at/hintergrund.html

Die Finanzierung von Windhorse durch die Pharmaindustrie wird den Einsatz von Psychopharmaka nicht unbeeinflusst lassen. Das muss kritisch angemerkt werden.

s. Wir handeln nachhaltig. Pfister Corporation Austria, Nachhaltigkeitsbericht 2009, Seite 33.

 

111 Äußerung von Roy Knocke in seinem Vortrag:

Roy Knocke M.A. (Potsdam): Genozid als philosophische Herausforderung. “Aghet und Shoah”. Das Jahrhundert der Genozide, Konferenz in der Topografie des Terrors Berlin, 08.11.2015 – 10.11.2015 Berlin     http://www.hsozkult.de/event/id/termine-29011>.

 

112 Frank Neubacher, Köln, Wie können Menschen so etwas tun?

In seinem Vortrag auf der Tagung “Aghet und Shoah. Das Jahrhundert der Genozide” der Topographie des Terrors, Berlin, weist er hin auf das Problem “pasing the gate”, wenn man sich einmal entschieden hat für eine Gemeinschaft, wird es immer schwerer, den Weg zurück zu finden.

 

113 s. Jan Arens, Anthropologie als Störfall. Gesellschaftliche Bearbeitungen von Gewalt. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 /2011, Seite 73.

 

In einer seiner Posener Reden vor NS-Funktionsträgern hat Himmler eine “geregelte Normalität” hergestellt für den Holocaust und andere Tötungsaktionen.
Hier einige Sätze aus der Rede:

“Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes.(…) Es war eine, Gottseidank in uns wohnende Selbstverständlichkeit des Taktes, dass wir uns untereinander nie darüber unterhalten haben, nie darüber sprachen. Es hat jeden geschaudert und doch war sich jeder klar darüber, dass er es das nächste Mal wieder tun würde. (…)

Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen, oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. (…)

Wir müssen letzten Endes den Willen haben, und wir haben ihn, denjenigen, der an irgendeiner Stelle nicht mehr mittun will in Deutschland, – das könnte bei einer Belastung einmal eintreten – kühl und nüchtern umzubringen. Lieber stellen wir so und so viele an die Wand, als dass an irgend einer Stelle ein Bruch entsteht. (…)

Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. (…)

Insgesamt aber können wir sagen, dass wir diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk erfüllt haben. Und wir haben keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen.”

www.1000dokumente.de/pdf/dok_0008_pos_de.pdf

 

114 s. Christoph Türcke, Ausgrenzung. Die Aktualität eines Begriffs oder: Das andere Gesicht der Integration. Frankfurter Rundschau, 2. November 1996

 

s. Carolin Emcke, Stumme Gewalt, 2009, S. 57

 

115 s. Etienne Balibar,  Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. 2006

dazu Kai Köhler, Grenzen der Zivilität. Étienne Balibar über das Volk, den Staat und ihre Ideologien. 12.12.2007http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11415

 

s. Pierre Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen am College de France 1989 bis 1992. 2014

 

116 Legendre, Pierre,  Die Fabrikation des abendländischen Menschen, 1999, S. 27

 

117 Legendre, Pierre,  Die Fabrikation des abendländischen Menschen, 1999

 

118.s. Clemens Pornschlegel und Hubert Thüring, Warum Gesetze? Zur Fragestellung Pierre Legendres. Nachwort, S. 169, In: Pierre Legendre das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater. Lektionen VIII. 1989, deutsch 1998

 

s. Marcus Steinweg Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 25

 

s. Jean Starobinski, Besessenheit und Exorzismus, 1978, Seite 50f

 

119 siehe dazu die Konferenz im Haus der Kulturen der Welt in Berlin:

A History of Limits, Zur Architektur von Kanon-Erzählungen, 18. / 19. März 2016        

“Kritik und Dekonstruktion des Kanons der Moderne prägen die künstlerische Praxis und Theorie der letzten Jahrzehnte. Doch ist der Kanon nicht nur ein institutionelles Machtinstrument. Er lässt sich auch einsetzen, um Wissen, Verständnisvermögen und ein historisches Bewusstsein herauszubilden. Wie muss das Fundament für einen neuen Kanon beschaffen sein und wie ließe dieser sich erzählen?

A HISTORY OF LIMITS setzt bei der Gründungsmission des Hauses der Kulturen der Welt 1989 an, die Parameter des Eurozentrismus und des westlichen Kanons zu überschreiten. Die Eröffnungskonferenz des Langzeitprojektes KANON-FRAGEN untersucht die Gründungsmythen institutionalisierter Kanonformen und hinterfragt deren Konstruktion und Autorität. ( …) … entwickelt die Konferenz diesen Ansatz weiter, erkundet das Unbewusste der Moderne und die „halluzinatorische“ Dimension der Kanon-Narrative auf dem unsicheren Boden untoter Geschichtsschreibungen.” Aus der Ankündigung der Konferenz durch das HKW. https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2016/a_history_of_limits/a_history_of_limits_start.php

 

120 s. Legendre, Pierre, Gesellschaft als Text, 2012, S. 163

 

121 Zum grundlegenden Zweifel am Recht und zum Leben im Ausnahmezustand

s. die Ausführungen von G. Agamben über den homo sacer. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/Main, 2002.

s. darüber Thomas Assheuer, Das nackte Leben. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hält den Niedergang des Rechts für eine unabwendbare Schicksalsfügung.

DIE ZEIT 01.07.2004 Nr.28

 

122 s. Snyder, Timothy, Black Earth: The Holocaust as History and Warning. 2015

Die Erkenntnisse des Wissenschaftlers Snyder sind sehr aktuell, wie ein Bericht des Tagesspiegels zeigt:

“… geradezu ein Charakteristikum islamistischer Gewalt, denn was sie mit ihrer Blindwütigkeit erreichen will, ist der Zusammenbruch der staatlichen Strukturen überall da, wo Bomben und Selbstmordanschläge Unbeteiligte treffen.
Wenn in der Folge Touristen ausbleiben, wie das in Tunesien geschah oder nach dem Anschlag auf eine russische Passagiermaschine über dem Sinai in den ägyptischen Badeorten, brechen Unternehmen zusammen, verlieren Tausende die Arbeit, machen sich Elend und Hoffnungslosigkeit breit.
Dies ist der Nährboden für neue Gewalt, für verzweifelte Menschen, die ihre letzte Zuflucht in der pseudo-staatlichen und fanatisch-religiösen Ordnung der Dschihadisten sehen. Das ist eine der Wurzeln der Terroranschläge in Frankreich, für die sich auch junge und in Frankreich aufgewachsene Muslime zur Verfügung stellen und sich opfern – und dann Dutzende in den Tod mitreißen. Die Entwicklungen in Syrien und vor allem dem Irak belegen außerdem, dass die von Jahren des Bürgerkrieges zermürbten, fast verhungerten Einwohner belagerter Städte sich notgedrungen lieber unter das Dach der IS-Diktatur flüchten, als gleich zu sterben.”

Gerd Appenzeller, Der Terror will uns alle treffen. Tagesspiegel 13.1.2016

 

Nicht nur in Kambodscha – wie beschrieben, sondern auch im Jugoslawienkrieg ist dieser Zusammenhang aus Verunsicherung und kriegerischer Gewalt zu beobachten.

s. Calic, Marie-Janine, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. 2010

 

123 Witthoeft, Maren, Der Mann der Hitler bloß stellte. Frankfurter Rundschau 19.6.2003.

 

124 s. James Sheehan, Macht, um sich zu behaupten. Der Strukturwandel des Verhältnisses von Staat und Gewalt in der europäischen Moderne. Frankfurter Rundschau, 18.09 2011

 

125 s. Legendre, Pierre, Gesellschaft als Text, dtsch 2012, S.84, Anmerkung 63.

 

126 Pierre Legendre, Die Fabrikation des abendländischen Menschen, 1999. S. 43/44

 

127 Nach Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. 1999, s. Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 50

 

128 Felix Ensslin auf einer Tagung im Theater HAU, Berlin, 2013 “Phantasma und Politik”:  “am Anfang steht die Irritation, der ‘Augenblick’, eine Erfahrung, die unbewusst gemacht wird, und für das nicht Auflösbare in der Kunst steht.”

 

s.auch  Marcus Steinweg Philosophie des Überstürzung, 2013, S. 34

 

129 s. Verena Kast, Die subversive Lebenskraft. 1999. Die Autorin fragt, was tue ich mit mörderischer Wut, und versucht zu ermitteln, was hat mich so weit gebracht?

 

Zur Illustration hier ein Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner: Schlemihls Begegnung mit dem Schatten,1915.http://sammlung-online.museum-folkwang.de/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&siteId=1&module=collection&objectId=11597&viewType=detailView&lang=de&actionListenerClassName=ch.zetcom.mp.presentation.tapestry.util.customCode.ActivateDetailTabPos3ActionListenerharbort

 

130 Hier wird der Unterschied zwischen Kunst und Kunsthandwerk sehr deutlich, letzteres hat keinen Bezug zur Unbezähmbarkeit.

 

s. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, 1970, S.144, nach Steinweg, Marcus, Philosophie der Überstürzung, 2013, Seite 31.

Steinweg: “Es handelt sich um die Interrogation noch der verlässlichsten Gewissheiten, sofern sie einer Begründung in einem Prinzip letzter Gewissheit entbehren.”

Hinweis auf Heiner Müller, der sagt, “Dummheit ist auch Sicherheit, und Kunst stört ja auch die Dummheit (…) und stört dadurch die Sicherheit.”, Gespräche 3, 2008.

 

s. Pierre Legendre, Über die Gesellschaft als Text, 2001 Deutsch 2012. S. 111.

 

“Es gilt, die Dauer zu zerstören, das heißt die nicht sagbare Bindung der Existenz: die Ordnung, sei es die des dichterischen Kontinuums oder die der Zeichen des Romans, die Ordnung des Schreckens oder die der Wahrscheinlichkeit, die Ordnung ist ein vorbedachter Mord.” Zitat Roland Barthes nach Weigel, Sigrid, ”Ingeborg Bachmann – was folgt auf das Schweigen?” Frankfurter Rundschau 15.10.1983

 

“Hanns Henny Jahnns Werk ist das unablässige, verzweifelte Bemühen, diese Dunkelheit zu durchdringen, das Nichtverstehbare zu verstehen. Er sagt: Die Aporie ist unauflösbar, der Roman nicht abschliessbar, die Kunstanstrengung ein Scheitern. Seine Sprache bleibt hinter dem Erkenntnisanspruch derart zurück, daß die Unerreichbarkeit, die Unbegreiflichkeit des Angezielten bewußt wird. Die rationale, intelligible, konstrukthafte Seite von Sprechen und Sprache reicht momentweise nicht heran an die Peripetien des Werks, an die konvulsivischen Höhepunkte. Jahns Utopie: die Musik könne die Menschheit erlösen.”

s. Ulrich Greiner, Die sieben Todsünden des Hans Henny Jahnn. Zum 100. Geburtstag am 17. Dezember 1994, Die Zeit, 11.11.1994

http://www.zeit.de/1994/46/die-sieben-todsuenden-des-hans-henny-jahnn

 

131 Zitat Jean Luc Nancy, 2010, Zum Gehör, S. 46, nach Marcus Steinweg Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 47

 

132 Die Wünschelrute von Josef von Eichendorff, 1838

 

s. Jacques Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy. 2007, zitiert nach Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, Seite 49.

 

133 Sigrid WeigeL, Ingeborg Bachmann – was folgt auf das Schweigen? Frankfurter Rundschau 15.10.1983:
“… diese Subjektivität (…) ist weder Haltung noch Meinung, sondern – wie Elisabeth Lenk es in ihrem Buch über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum analysiert – eine souveräne Macht, die stabilen Dauer -Gebilden entgegenzutreten vermag, ‘eine kreatürliche fortzeugende Substanz, die sich an die gesellschaftlichen Einteilungen nicht hält, nicht einmal an die Teilung in Individuen. Sie kann die geronnene Sprache erhitzen, in ein Magma verwandeln, immer wieder. Daher wird sie von der Gesellschaft als Geist der Unordnung, als ständige Bedrohung empfunden.”

 

135 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. 1992, S. 146f. zitiert nach Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 37.

Felix Ensslin auf einer Tagung im HAU 2013 “Phantasma und Politik”: “‘Kommunikation’, so eine prägnante Aussage Ensslins, “muss mit Nicht-Kommunikation konstitutiv verbunden bleiben, Kunst mit Nicht-Kunst, wenn sie lesbar bleiben und nicht in ihren Bedeutungen verschwinden soll.” 23.11.2013

s. Felix Ensslin, Kunst im Blick der Psychoanalyse. Antrittsvorlesung 01.06.2011
http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.felix-ensslin-kunst-im-blick-der-psychoanalyse.af7fbcbb-5e12-4286-8e78-12c1ae70e947.html

Ralf Schnell beschreibt dieses auch für die Kunst der unmittelbaren Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg: “… Den Werkstoff aber hatte die unnachgiebige Konzentration auf den Eigenwert des Geistes zu geben, die Abtrennung der Kunst vom Leben, die Poetik einer ‘reinen’ Dichtung.”
Ralf Schnell, Dichtung im finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschismus, 1998, Seite 176.

Steinweg, Marcus, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 37, zitiert Adorno: “ die mangelnde Beziehung einer Kunst auf das außer ihr, auf das, was an ihr selbst nicht Kunst ist, bedroht sie in ihrer inneren Zusammensetzung, während der soziale Wille, der sie davon zu heilen beteuert, unabdingbar das Beste an ihr beschädigt: Unabhängigkeit, Konsequenz, Integrität. Adorno, T., Zur Metakritik der Erkenntnistheorie,1970, S. 34

136 Ralf Schnell, Dichtung in finsteren Zeiten, 1998, Seite 129

 

Beevor, Antony: Stalingrad. … Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow bei Greifswald 1996.

 

137 Gerhard Schumann, Wir aber sind das Korn. Gedichte. 1936, darin “Lieder der Kämpfer”, S. 71, zitiert nach Ralf Schnell, Dichtung in finsteren Zeiten, 1998, S. 105.

 

138 Schnell, Ralf, Dichtung in finsteren Zeiten, 1998, S. 118

 

139 Zum Beispiel die Kunstrichtung Dadaismus: s. Deutschlandradio, Lange Nacht.

13. und 13./14. Februar 2016, Von Ursonaten und anderen Tönen. Eine lange Nacht über 100 Jahre Dada.

 

taz.die tageszeitung vom 05.02.2016: Dada oder warum die taz heute gaga ist. http://www.taz.de/!5275036

 

Zum Beispiel der Künstler George Grosz. s. Ben Hecht: Revolution im Wasserglas. Geschichten aus Deutschland 1919. 2006

 

s. auch Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013

 

140 Botho Strauß, Lichter des Toren: Der Idiot und seine Zeit, 2013

 

141 Der Psychiater Klaus Dörner spricht von drei Geburtsfehlern der Psychiatrie und Psychotherapie (Institutionalisierung, Medizinisierung der psycho-sozialen Bedingungen und Professionalisierung des Helfens) als sie Anfang des 19. Jahrhunderts entstand, die wir jetzt allmählich nachbessern. 1848 wurde in dem Medizinstudium das Philosophicum, das absolviert werden musste, weil Medizin Teil der Philosophischen Medizin war, geändert in das Physikum in der naturwissenschaftlichen Fakultät, und als Patienten werden danach die Menschen angesehen, deren defekte Leistungsfähigkeit repariert werden muss. Der traumatisierte Mensch wurde als leistungsunfähig und lebensunwert betrachtet, für dessen Behandlung laut Berufsordnung für Ärzte das ärztliche Fachwissen nicht verschwendet werden durfte.

DGVT Kongress 2016

 

142 Edward Shorter hat darauf hingewiesen, dass die kulturellen Annahmen unserer Geselllschaft auch die psychiatrischen Symptome formen.
s. Edward Shorter, Von der Seele in den Körper, 1999

                                   

143 Einst sehr bekannte Namen (im Zusammenhang mit der antipsychiatrischen Bewegung) R. Laing, David Cooper, F. Basaglia, Michel Foucault, Jaques Lacan, Thomas Szasz und viele mehr waren im öffentlichen Bewusstsein präsent.

Dazu ein aktueller Text von Anselm Franke:

“Der historische Moment der vielleicht weitreichendsten, radikalsten Kritik… , ist der Diskurs der Anti-Psychiatrie. Seit der Anti-Psychiatrie gab es keinen kritischen Diskurs mehr, der die Herausforderung der ontologischen Differenz radikaler und umfassender begegnet wäre…. Die Schizophrenie ist auch eine Herausforderung an das Denken…  Der Anti-Psychiatrie, wie sie in einem Experiment wie der Kommune Kingsley Hall unter dem zentralen Einfluss von R. D. Laing praktiziert wurde (Kingsley Hall im Film ASYLUM von Peter Robinson, USA 1972), möchte ich eine weitere Differenz hinzufügen, die den Kern der sogenannten Ethnopsychiatrie bildet: Die Differenz der Moderne zu ihrem Anderen, dem vormals als Primitiv bezeichneten. Die Ethnopsychiatrie konfrontiert die Herausforderung der ontologischen Differenz innerhalb der kolonialen Matrix, sie sucht ein Außen zu dieser Matrix aus der Mitte der Differenzen heraus zu artikulieren, die diese Matrix erst konstituieren.”

http://www.arsenal-berlin.de/de/living-archive/projekte/living-archive-archivarbeit-als-kuenstlerische-und-kuratorische-praxis-der-gegenwart/einzelprojekte/anselm-franke.html

 

144  Auf dem Kongress der DGVT 2016 mit dem Titel “The Dark Side of the Moon, Krisen, Traumata… – verlorene Sicherheit zurückgewinnen” wurde das Problem der Beeinträchtigung der Patienten durch Psychiater und Psychotherapeuten thematisiert und zum Teil von Retraumatisierung gesprochen.  http://www.dgvt.de/aktuell/verein/kongressetagungen/kongress/kongress-2016/

 

145 Pierre Legendre spricht von Psychiatern als “okkulten Richtern”.

Legendre, Pierre, Das Verbrechen des Gefreiten Lortie, 1998

 

146  s. War der Klient ein Retter? Ein Arbeitspapier, das auf Kommentierung wartet. Januar 2016  http://www.erepro.de/info-und-diskussion/

 

s. Reddemann, Luise, Würde als Gegenstand psychotherapeutischer Interventionen?! Vortrag gehalten am 7.12.07, Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf,

 

Zur allgemeinen Information über die Situation in der Psychiatrie für diese “Störenden”:

s. Velten Schäfer, Weiße Götter, Folterknechte? 240 000 Bürger werden jährlich gegen ihren Willen psychiatrisch behandelt. Neues Deutschland 23.11.2013

http://www.neues-deutschland.de/artikel/915866.weisse-goetter-folterknechte.html

 

147 Dazu s. Jean Starobinski, Besessenheit und Exorzismus. 1976/1978, S.18.

Er kritisiert deterministische Auffassungen in der Therapie, die Verantwortung und Schuld weitgehend ausschließen.

 

s. Fraisse, Simone, Ajax ou l’honneur de l’homme.  ESPRIT, 12, 1963, S. 883
Sie betont, dass der Glaube – welcher auch immer – in der Hoffnung auf eine Zukunft das Tragische aufgelöst hat, sieht aber auch, dass das in der Wirklichkeit oft nicht zutrifft: hic et nunc, nous sommes dans l’obsurité…

148 Theweleit stellt fest bei Breivik  eine “Konstellation bedrohten Man-Seins in der Modern-Welt.”

Klaus Theweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u.a., 2015, S. 109.

 

149 Heinz Kammeier, Die psychiatrische Maßregel. Gefahrenabwehr und Behandlung zwischen Selbstbestimmung und/oder Zwang. In: Soziale Psychiatrie 1/2016, Seite 6.

Er berichtet über den Glauben einiger an eine durch Medikalisierung zu erreichende Perfektionierbarkeit des delinquenten Menschen.

 

150 s. Volkmar Aderholt, Neuroleptika – Effekte, Risiken, Aufklärung und Behandlungskontext. Institut für Sozialpsychiatrie an der Universität Greifswald 01/2007

 

151 s. Fraisse, Simone, Ajax ou l’honneur de l’homme.  ESPRIT, 12, 1963, S. 878

Kunst (…) hat eine integrative Funktion im Umgang mit dem Chaos und dem Abgründigen im Menschen.

In der Psychiatrie kommt dem das Erlebnis eines vertrauensvollen Kontaktes nahe, der ebenfalls Struktur, Selbstverständlichkeit und Legitimität vermittelt, ohne in Gefahr zu sein lebendige Eigenständigkeit zu erdrücken durch extrapolieren abstrakter Prinzipien.

s. Legendre, Pierre, Über die Gesellschaft als Text. 2012, Seite 110, 111

 

152 s. War der Klient ein Retter? Ein Arbeitspapier, Januar 2016  http://www.erepro.de/info-und-diskussion/

 

s. Stavros Mentzos, Konflikt und Psychose. in: Abschied von Babylon. Herausgeber Thomas Bock und andere. 1995

 

s. “Die radikale Akzeptanz des Gegenübers.” Interview mit Edgar Hagen, der den Film “Someone beside you” gedreht hat. http://www.someonebesideyou.com/de/index_d.html

Der Film ist auf YouTube zu sehen. Ein empfehlenswerter Film.

 

s. War der Klient ein Retter? 10.3.2016
http://www.erepro.de/wp-admin/post.php?post=4982&action=edit

 

153 1. Zitat:  Manos Tsangaris in der Ausstellung “Schwindel der Wirklichkeit”, Berlin 2014

s. auch Ch, Kruse, Psychiatrie trifft auf Kunst: Variationen über Wirklichkeit.

http://www.erepro.de/2014/12/10/psychiatrie-trifft-auf-kunst-wirklichkeitsvariationen/

2. Zitat: Heiner Müller, Gespräche 2, 2008, zitiert nach Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 50.

 

154 Botho Strauss: Lichter des Toren: Der Idiot und seine Zeit, 2013

http://www.amazon.de/gp/aw/cr/rR12YI5J8NZ31E2

 

155 Heinrich Karl Fierz, Die Psychologie C.G. Jungs und die Psychiatrie. 1982, S. 46:

“Die wirkliche Aufnahme des Neuen durch das Alte jedoch geschieht durch das Leiden und wenn das Leiden fruchtbar wird, können wir das Glück nennen, oder auch Gnade Gottes.”

 

156 s. “Der Holocaust als Kultur” von Imre Kertész. In: Imre Kertész, Die exilierte Sprache, 2003, S.88

“Eine lebensfähige Gesellschaft muss ihr Wissen wie Bewusstsein von sich selbst und von den eigenen Bedingungen wachhalten und ständig erneuern, und wenn ihre Entscheidung lautet, dass die schwere schwarze Trauerfeier für den Holocaust ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Bewusstseins ist, dann gründet diese Entscheidung nicht auf irgendwelchem Beileid oder Bedauern, sondern auf einem vitalen Werturteil. Der Holocaust ist ein Wert, weil er über unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat, und damit eine unermessliche moralische Reserve birgt.”  

 

157 Bärfuss, Lukas, Interview mit Julian Weber. “Nur Mitleid kann etwas ändern.”, TAZ 28.11.2015

 

158  Man spricht heute schon von “Postpsychiatrie”. Vielleicht ist es tatsächlich nötig, diesen ganzen so fehlentwickelten Bereich auch begrifflich hinter sich zu lassen. Dann brauchen wir aber als Teil ”kultureller Errungenschaften” die “Psychotherapie”. Wobei der Begriff eigentlich nicht umfassend genug ist für die Möglichkeiten, mit dem Unbezähmbaren in diesem Bereich umzugehen.

 

159 Über Training von Empathie und Hilfsbereitschaft: s. Manfred Dworschak, Die Macht des Mitgefühls. Der Spiegel 19/2013, S.118

 

s. Michael Emmerich,, Therapie gegen Entwürdigung. Ein Bremer Pädagoge arbeitet mit aufgegebenen Patienten, Frankfurter Rundschau 31.1.1990

 

 s. Reddemann, Luise, Würde als Gegenstand psychotherapeutischer Interventionen?! Vortrag gehalten am 7.12.07, Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf,

und

dies., “Würde – Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie”, 2013

 

160 Dörner Klaus, Die Gesundheitsfalle. 2003, S.190

 

s. “Mit dem Gestern im Blick das Morgen gestalten”. Angehörigentagung München 2000, S.96

 

Eines der vorgeschlagenen Ziele für 2016 des Kampagnenportals Avaaz:

“ISIS besiegen, und zwar mit Liebe – Kampagnen durchführen, um dem Hass, der Angst, der Gewalt und der Fremdenfeindlichkeit, die der Islamische Staat und Extremisten auf allen Seiten schüren, mit Mitgefühl, Menschlichkeit und Zusammenhalt entgegen zu wirken.”

Aus der Umfrage von AVAAZ vom Januar 2016

 

s. Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, 2013, S. 11, 28f.

 

Die Nationalsozialisten wussten, dass Mitleid etwas Natürliches ist. Sie hatten immer Angst, dass angesichts ihrer Taten Mitleid entstehen könnte. s. Sebastian Haffner, Germany: Jekyll & Hyde. 1939 – Deutschland von innen betrachtet. Englische Originalausgabe 1940, deutsche Erstausgabe 1996. S. 120

161  Navid Kermani, 18. Oktober 2015. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015. Börsenblatt vom 22.10 2015

 

Seit einigen Jahren sind Mitgefühl, Empathie und Hilfsbereitschaft verstärkt Thema in den Medien. Der Zuzug der Flüchtlinge und die deutsche Willkommenskultur haben diese Tendenz noch verstärkt.

Einige Beispiele

Frans de Waal, Fitnessfaktor Empathie. Der Freitag 31.1.2011

 

Dworschak, Manfred, Die Macht des Mitgefühls. Der Spiegel,15.07.2013

 

s. Bärfuss, Lukas, Interview mit Julian Weber. “Nur Mitleid kann etwas ändern.”, TAZ 28.11.2015.     http://www.taz.de/!5254433/

 

Thomas Gerhardt, Betroffenheit. 2000, 2016 veröffentlicht auf
http://www.erepro.de/?s=betroffenheit

 

Rosa Luxemburgs Arbeit war stark geprägt durch ihr Mitleid – mit den Tieren und den Menschen.

s. http://totalliberation.blogsport.de/infotext-repression/die-tiere-rosa-luxemburgs/

Das wird auch in der Biographie von Laschitza deutlich.

Laschitza, A., Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biographie, 1996.

Ein beeinduckendes Dokument zum Thema “Mitleid” ist der Brief von Rosa Luxemburg an Sophie Liebknecht aus dem Gefängnis, den Karl Kraus bekannt gemacht hat.
Karl Kraus, Rosa Luxemburg, Büffelhaut und Kreatur, hrsg. Friedrich Pfäfflin, 2009

https://www.perlentaucher.de/buch/karl-kraus-rosa-luxemburg/bueffelhaut-und-kreatur.html

 

162 Waltraud Schwab, “30-60-170 plus”, TAZ 9./10.1.2016, S 5.

 

163 Friedrich Schiller 1797 in: Würde des Menschen (in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Gütersloh 1976, S. 438)

164 Klaus Dörner ging auf dem Kongress der DGVT 2016 mit gutem Beispiel voran, und schuf den neuen Begriff “Helfensbedürfnis”, der von den Teilnehmern positiv aufgegriffen wurde. Er bezieht sich auf die weit verbreitetete, selbstverständliche Bereitschaft (sogar das Bedürfnis) der Bürger in unserem Land sich ehrenamtlich zu engagieren.
Wenn auch sperrig, ist dieses Wort doch besser als “Gutsein” o.ä.!?

Die Wochenzeitung “Der Freitag” widmete sich am 24.3.2016 ausführlich dem Thema “Altruismus”: Wenn genug nie genug ist. Altruismus. Manche Menschen richten ihr Leben komplett danach aus, möglichst viel Gutes zu tun. Aber ist eine solche Hypermoral wirklich lebbar? S. 5, Christian Füller, Tue Gutes und schweige darüber. S. 8, etc..

165 Matthäus 20 Vers 15, zitiert nach Ulfrid Kleinert, In der guten Gesellschaft der Gastwirte. Frankfurter Rundschau 16.07.2010

166 Es wirkt wie eine Binsenweißheit, dass nach den schweren Unruhen in den franzöischen Vorstädten vor ein paar Jahren sozialpolitische und pädagogische Maßnahmen hätten ergriffen werden müssen, als Versuch, diese unterpriviligierten Jugendlichen in die Gesellschaft zu integrieren.Ging die Verachtung dieser Menschen so weit, dass gar nichts derartiges geschah?

So dass einige jetzt jetzt als Terroristen aktiv geworden sind?

Carsten Kelle, Sozialer Humus des Dschihad, TAZ vom 27.11.2015

Der Stadtteil Mollenbeek in Brüssel steht entsprechend in der Kriktik. Dort gab es lange Jahre einen sozialistischen Bürgermeister, der die belgischen antirassistischen Gesetze af den Weg gebraacht hatte…
Zur differenierteren Betrachtung dieser Problematik s. Francois Misser, Warum gerade Molenbeek? DSCHIADISTEN. Die meisten Attentäter von Paris und Brüssel stammen von Einwanderern aus Marokko ab. Was lief falsch bei der Integration der Belgo-Marokkaner”? TAZ, 29.3.3016, S. 4

167 Kertesz, Imre, 2007, Opfer und Henker. Darin: Ich, der Henker. S. 37f

168 Hartmut Rossa, Gespräch, Beschleunigt in den Untergang. Wie unsere Turbogesellschaft tickt. SWR 2, 3.12.2015
http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/beschleunigt-in-den-untergang/-/id=660374/did=16370138/nid=660374/394ndl/

 

War der Klient ein Retter?

In dem folgenden Arbeitspapier aus unserem bayerischen Sozialpsychiatrischen Dienst beschreiben wir unser Vorgehen mit Klienten, deren gravierende Probleme in einer einfachen Beratungssituation nicht in den Griff zu bekommen sind. Was tun wir dann?

1. Das Team des Sozialpsychiatrischen Dienstes lernt den Menschen kennen
Wir überlegen, wie wir den Menschen erleben, hören ihm gut zu und stellen ausdrücklich fest, was uns im Umgang mit ihm auffällt und ungewöhnlich erscheint. Das wird bei jedem Mitarbeiter unterschiedlich sein. Darum nehmen alle, die den Klienten kennen – auch Sekretärinnen im Empfang – teil an den Besprechungen über unsere Erfahrungen mit diesem Hilfesuchenden, die nach einiger Zeit stattfinden.

 2. Gemeinsame Suche einer plausiblen Sicht des Lebens eines Menschen
Wir erfahren von der Klientin selber, und von anderen Menschen (Bezugspersonen) in ihrer Umgebung Ereignisse und Erlebnisse aus ihrem Leben.
Für Mitarbeiter und Hilfesuchende können weiterführende Erkenntnisse nur im gemeinsam vollzogenen Suchen gewonnen werden. Außerdem ist nur so ist die Würde der Klientin zu wahren. Die beiden werden dabei zu “Schicksalsgefährten” (Jaspers). Die Klientin kann sich dabei gleichzeitig eine persönliche Sicht ihres Lebens erarbeiten.

Diese Suche nach plausiblem Verständnis wird in der Regel nicht als abwertend erlebt. Psychoanalytisch orientierte Autoren, wie Stavros Mentzos (1), haben viele “Fallgeschichten” in ihren Texten. Und es ist zu empfehlen, sich die wertschätzende, dynamische Denkweise von Stavros Mentos zu Gemüte zu führen, um diese suchenden Gespräche führen zu können, statt sich mit ICD-Klassifikationen (2) im Kopf die Sicht auf einen Menschen zu verstellen.

3. Positive Prägung
In familiär schwierigen Situationen passen Kinder oder Jugendliche sich in die strukturelle Situation so ein, damit alles (wieder) besser läuft. Sie geben dabei oft Eigenes auf, gesteuert von ihrem dringenden Wunsch nach Wiederherstellung einer unproblematischen, sicheren Situation, nach Stabilität. Wenn sie damit Erfolg haben, wird das in der Regel von der Familie positiv vermerkt, und sie spüren dann meist selbst ihre eigene Bedeutung für das Weiterbestehen des ganzen sozialen Gebildes Familie. Sie haben erlebt, dass sie sich selber helfen konnten, das Problem zu lösen und gelernt, wie es geht. Das kann ihr zukünftiges Verhalten, ihren „Charakter“ entscheidend prägen.
Somit ist es naheliegend, dass sie eine Tendenz entwickeln, entsprechendes Verhalten auch in anderen (schwierigen) Situationen anzuwenden, um wieder mehr Sicherheit zu erlangen.

Wir fragen uns, an welchem Punkt könnte diese besondere Prägung des Klienten stattgefunden haben. Wann war ein Verhalten des Klienten absolut notwendig und sinnvoll, um eine schwierige Situation zu lösen, zu entspannen, damit es weiter gehen konnte? Wann war er besonders erfolgreich, hilfreich und wichtig, wurde als „Retter“ gebraucht?
Welche Aufgabe hat er in der Situation übernommen? In welcher Funktion hat er als „Problemlöser“ so viel Anerkennung bekommen, dass er unwillkürlich immer wieder in ein solches Verhaltensschema verfällt, das aber ein angemesseneres Verhalten in anderen Situationen auch verhindern kann, und uns als seinen Mitmenschen dann unangebracht erscheint.

Somit stehen nicht das „Fehlverhalten“ und die Pathologisierung der Klienten im Vordergrund, sondern es wird davon ausgegangen, dass er sich aus seiner Sicht und persönlichen Situation heraus „sinnvoll“ verhält, dass das gezeigte, für die Mitarbeiter auffällige Verhalten für ihn den geringsten emotionalen Aufwand verursacht.

Da es sich hier um ein Arbeitspapier handelt, können wir ein Phänomen erwähnen, das uns immer wieder auffällt, für das wir aber keine Nachweise bieten können:
Die Altersstufe, in der ein Mensch in einer schwierigen Situation das überwältigende Gefühl hatte, dass ihm eine Problemlösung gelungen ist, vermittelt sich per Anmutung durch sein Aussehen und den Eindruck, den er als Persönlichkeit erweckt. Wir haben uns oft einfach gefragt, wie alt sieht der Klient aus (wobei nicht die realistische Schätzung seines Alters gemeint ist, sondern ein allgemeiner Eindruck), um auf die dafür entscheidende Phase in seinem Leben zu kommen.

Es ist Aufgabe des Mitarbeiters, diese ursprüngliche (historische) Konstellation bei dem Klienten zu begreifen. Es geht nicht wesentlich um distanzierte Beobachtung (mit ihren allgemein bekannten Ungenauigekeiten) und deren Festschreibung in “Symptomsammlungen” für den ICD, sondern um schlüssige Interpretation von Erfahrungen des Klienten und dessen, was die Mitarbeiter mit ihm erleben.
Wir suchen nach positiven Erfahrungen, die der Klient in einer emotional angespannten Situation gewonnen hat, ohne verletzt worden zu sein. (3)

Diese positive Rolle des Klienten kennzeichnen wir mit einem möglichst anschaulichen Begriff, so dass jeder Mitarbeiter und der Klient selber das Erleben und Verhalten gut charakterisiert findet, z.B. „Gehilfe“, oder häufig bei Kindern eines psychisch kranken Elternteils “Sozialarbeiter”, auch wenn sie ganz andere Berufe ergriffen haben.
Diese Überlegungen sind als Ausgangspunkt jedes Selbstheilungsansatzes wichtig.
Scharfetter (4) zititert Kläsi, dass zunächst die Tendenz zur Selbstheilung der Klientin zu untersuchen sei, und dann erst sei im Sinne der Unterstützung und Förderung derselben die Therapie zu wählen. Scharfetter: Symptome zeigen den Stand der Selbstrettungsversuche (S.232).
„Erlebnisweisen“ lassen sich damit nicht immer erklären, so dass man Unverständliches auch mal stehen lassen können muss.

4. Gegencheck
In allen uns bekannten und in neuen Situationen mit der Klientin wird gegen gecheckt: passt das mit der “Version” ihrer Lebensgeschichte und den “plausiblen” Vorstellungen zusammen, die wir in den Gesprächen mit ihr gewonnen haben? Es sollte immer passen, wenn nicht, muss die “Version”(wie wir das Ergebnis unserer Überlegungen über das Leben des Klienten nennen) ergänzt und modifiziert werden.

5. Änderungswünsche
So ist ohnehin klar, dass wir an den Klienten nicht den Wunsch herantragen sich zu ändern.
Wir versuchen mit ihm (für ihn) solche Lebenssituationen zu finden, in denen er dieses subjektiv sinnvolle Verhalten praktizieren kann, ohne anzuecken, unerträgliche Widersprüche zu erleben oder sonstigen Problemen zu begegnen, wie bereits geschehen.

6. Haltung gegenüber dem Hilfesuchenden
Grundsätzlich reichen diese Erkenntnisse schon aus, damit sich die Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes der Hilfesuchenden gegenüber “richtig” verhalten. Die Such-Überlegungen in der gemeinsamen Besprechung beeinflussen die Einstellungen der Mitarbeiter der Klientin gegenüber entsprechend, sodass weitgehend auf abstrakte Mitteilungen (wie Diagnosen) oder auch konkrete und praktische Verhaltensanweisungen für den Umgang mit der Klientin verzichtet werden kann. So etwas ist ohnehin in der Regel kontraproduktiv.
Die Hilfesuchende wird Vertrauen finden und sich wohlfühlen mit Menschen, die ihre Situation einigermaßen zutreffend sehen und ihr immer wieder zuhören.

7. Selbsterkenntnis
Im Laufe der Zeit wird eine Spiegelfunktion eintreten, die man möglicherweise bei Gelegenheit eines intensiven Gespräches mit viel Zeit auch mal ansprechen kann. Nicht im Sinne einer doch noch (heimlich!) beabsichtigten Änderung des Klienten, sondern als Hilfe zur „Selbsterkenntnis“.

8. Praktische Unterstützung
Im ganzen Bereich des Sozialpsychiatrischen Dienstes wird dann eine Aufgabe (Position) gesucht, bei der Hilfesuchende dieses für ihn “sinnvolle” Verhalten praktizieren kann, ohne dass es Schwierigkeiten gibt. So können Mitarbeiter seine besondere “Fähigkeit” spiegeln.
Anschließend findet die „Beratung“ statt, d.h. Reha- und berufliche Maßnahmen etc. werden geplant, die „passen“, und die nicht – wie in sehr vielen Fällen – unweigerlich zu neuen Problemen führen, denn das können Klient und Mitarbeiter allmählich einigermaßen einschätzen.

Wenn später eine belastende Situation – wie häufig – nicht zu vermeiden ist, beginnt eine regelmäßige – je nach Bedarf engmaschige – Begleitung des Hilfesuchenden, um die zu erwartenden, konkreten Probleme ins Auge zu fassen. Es wird versucht mit dem Klienten zu überlegen, wie er damit trotzdem zurecht kommen könnte, unter voller Akzeptanz seiner Eigenart. Wie jeder von uns in schwierigen Situationen, weiß er dann, ich neige zu dem oder jenem, ich muss also jetzt aufpassen, weil womöglich bei mir Fehlwahrnehmungen und unerwünschtes Verhalten auftreten können. Das ist ein Appell an die Vernunft, für rationales Vorgehen. Das kann man lernen und sinnvoll damit umgehen.

Günstige Voraussetzungen dafür, dass dieses Verfahren gelingt: frei verfügbare Dauer des Kontakts, die “Vergebung” der früheren Probleme und das Vertrauen bei Helfer und möglichst auch bei dem Hilfsbedürftigen, dass das Vorgehen sinnvoll ist.

 

Anmerkungen
(1) s. Stavros Mentzos, Konflikt und Psychose. in: Abschied von Babylon. Herausgeber Thomas Bock und andere. 1995

(2) ICD = Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. s. https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_statistische_Klassifikation_der_Krankheiten_und_verwandter_Gesundheitsprobleme

(3) s. hilfe Blätter von EREPRO Nr.11, “Sozialpsychiatrische Dienste – ein Luxus für reiche Zeiten? Zugehörigkeit, Orientierung, Verantwortlichkeit.”

(4 )s. Scharfetter, Ch., Schizophrene Menschen: Diagnostik, Psychopathologie, Forschungsansätze, 1999

Bitte an die Leser: kommentieren Sie dieses Arbeitspapier.

Wie ich in der Sozialpsychiatrie arbeite – trotz meiner Schwächen

Disziplin und Begleitung mit Krisenintervention statt Verstümmelung und Vernichtung?

Ich habe die Tätigkeit in einem bayerischen Sozialpsychiatrischen Dienst gewählt, weil sie mir besonders sinnvoll erschien. Wir begannen mit der Sozialpsychiatrischen Arbeit in einer Zeit, als dieser Ansatz sich erst entwickelte und konnten die Arbeit weitgehend frei gestalten.

Ich hatte in USA die ersten Anfänge von Antipsychiatrie miterlebt und schwankte in meiner Reaktion darauf zwischen Entsetzen über die völlig chaotischen Abläufe und Begeisterung über die Freiheit dieser völlig “ausgeflippten” Menschen von Disziplinierung und Maßregelung, wobei meine Angst damals eindeutig überwog.

Disziplinierung

Ich brauchte also für mich persönlich eine gewisse Disziplin der Klienten und die Sicherheit, keine Gewalt zu erleben, auch nicht gegenüber anderen im SPDI. Das habe ich den Hilfesuchenden zu Beginn meiner psychiatrischen Tätigkeit mitgeteilt, und sie waren und sind bereit, auf dieses Bedürfnis, das auf meiner Angst und Schwäche basiert, Rücksicht zu nehmen, d.h. sie akzeptieren beispielsweise die im Sozialpsychiatrischen Dienst verhängten Strafen für Ausübung körperlicher Gewalt, und nehmen sie bei Gelegenheit bewusst in Kauf.

Kostbare Fachkompetenz

Ich finde es nicht besonders sinnvoll, therapeutische Gespräche zu führen mit Menschen in akuter psychischer Verwirrung. Dabei ist mir klar, dass Kontakte und emotionale Zuwendung gerade in diesen akuten Situationen für den Klienten besonders wichtig sein können.

Darum haben wir als Begleiter dieser Menschen – beispielsweise bei  Depressionen, aber auch in psychotischen Phasen – ehrenamtliche Bürger geschult und eingesetzt, die auch in der Krise zur Verfügung stehen, wobei sie von uns Fachmitarbeitern regelmäßig beraten werden. Wenn die Krise eskalierte, greifen wir wieder ein und leiten – wenn nötig – eine medikamentöse oder auch stationäre Behandlung in die Wege.

Eine solche Begleitung – auch in schwierigen Phasen – findet außerdem durch Teilnehmer von Selbsthilfegruppen statt, in welche die Klienten von Anfang an sozial eingebunden sind.

Dieses Vorgehen hat sich  über viele Jahre Ausgangspunkt für dieses Vorgehen ist mein Unwille für dieses Vorgehen ist mein Unwille, teure Fachkompetenz einzusetzen, wenneine vernünftige Verständigung nicht möglich ist. Wobei der Gedanke der sinnvollen Verwendung von Finanzen eine Rolle spielte. Das ist eine Konsequenz meines Ordnungsbedürfnisses.

Übrigens war derselbe Gedanke Ursache der Einstufung bestimmter, verwirrter Patienten als “unheilbar” – und letztlich ihrer Vernichtung und Verstümmelung während der Nazi-Euthanasie. So ein Hinweis von Klaus Dörner auf dem Kongress der DGVT 2016. Auf diese Weise haben wir ein Modell dafür entwickelt, wie man auch menschlich und würdevoll für die verwirrten Hilfesuchenden dem Spar- und Ordnungs-Bedürfnis in der Psychiatrie Rechnung tragen kann. Wir haben diese Arbeit beschrieben in hilfe Blätter von EREPRO Nr. 11.

http://www.erepro.de/hilfe-blatter-von-erepro/liste-der-hilfe-blatter-von-erepro/

Es war mir immer klar, dass staatliche Stellen diese Sozialpsychiatrischen Dienste vorrangig finanzieren, um so genannte chronisch psychisch kranke Menschen besser unter Kontrolle zu halten. Mit dem von uns entwickelten Verfahren ist das sehr gut möglich. Es hat auch eine präventive Funktion, um Krisen der Patienten rechtzeitig zu erkennen und in den Griff zu bekommen.

Voraussetzung für diese Arbeit bei den Mitarbeitern ist eine ausgeprägte Fähigkeit, Spannung zu ertragen, das Aushalten der Ungewissheit, wie Entwicklungen ausgehen werden.

Wichtig ist es weiterhin, auf Aktivismus, um eigne Unsicherheit zu reduzieren, verzichten zu können, damit die Klienten den Spielraum behalten, den sie brauchen, um selber und mithilfe ihrer Begleiter aus der Krise herauszufinden – vor allem ohne übereilte Zwangsmaßnahmen.

Erleichtert wird das für uns Mitarbeiter, indem in dem Sozialpsychiatrischen Dienst Gelegenheit besteht, den Klienten gut kennen zu lernen, und mit den Kollegen darüber zu sprechen. Das erleichtert ein Einschätzen der Krisensymptome und reduziert die Angst vor unvorhersehbaren Reaktionen der Klienten in der Krise.

Ich denke, dass wir hier mein besonderes Sicherheitsbedürfnis, das womöglich aus dem Erlebnis einer starken Verletzungs- oder Unsicherheitssituation in meiner Vergangenheit resultiert, in dem Sozialpsychiatrischen Dienst auf eine Weise eingesetzt haben, wie das unter den für mich zwingend gebotenen Voraussetzungen von Vernunft und Ordnung am besten möglich ist.

Unterm Strich bringt das aber hoffentlich wohl doch mehr Vorteile als Schaden für die Hilfesuchenden.

 

EREPRO, Notizen aus einem unveröffentlichten Gespräch. 2004