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Inklusion – wie soll das gehen? Ein Vorschlag.

Zum 10-jährigen Jubiläum der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) erhielten wir einen neuen “Bericht aus Genf” (11) von Theresia Degener, die ein differenziertes Bild der Fortschritte internationaler Akzeptanz der BRK zeichnet, Probleme und Rückschläge dabei aber nicht auslässt. PDF-Dokument (639,1 KiB)

Frau Professor Degener begrüßt es, dass erstmals auch Menschen mit Lernschwierigkeiten im UN-BRK-Ausschuss vertreten sind. (kleine Anmerkung von EREPRO: von “behinderten” Menschen aus der Psychiatrie gar nicht zu reden …)

Aber:

… „auch im 10. Jahr des Bestehens der UN-BRK haben viele Vertragsstaaten das Menschenrechts-Modell von Behinderung noch nicht verstanden. Das Ausmaß der Verpflichtungen aus der UN-BRK ist vielen Vertragsparteien nicht bekannt. Wie bei anderen Menschenrechtskonventionen kommt es für die Umsetzung ganz wesentlich auf die Einmischung der Zivilgesellschaft in den Umsetzungsprozess an.

Diese “Beteiligung der Zivilgesellschaft” vermisst Volker Conrad ebenfalls, der sich in einem Artikel „Exklusion in Zeiten der Inklusion“ in der Zeitschrift Soziale Psychiatrie 3/2016 S.4f mit der Situation der Inklusion in der Psychiatrie befasst- nachdem er festgestellt hat, dass die Situation für psychisch kranke Menschen hierzulande als „desaströs“ bezeichnet werden müsse, wenn “man die Wirksamkeit der Eingliederungshilfe am Ziel der sozialen Integration festmachen” würde.

Insbesondere sieht er eine große  Benachteiligung von „Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und mit herausfordernden Verhaltensweisen, deren sozial nicht als angemessen empfundene Lebensführung auf klare Ablehnung stößt“. Um hier weiter zu kommen, und Inklusion von Psychiatriepatienten etwas mehr zu realisieren, fordert er ähnlich wie Degener, aber etwas konkreter:

„Wir müssen auf mehreren Ebenen ansetzen. Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie fordert unterschiedliche Akteure; Gemeinden, die bezahlbare Wohnmöglichkeiten im Quartier schaffen; Nachbarschaften, die sensibilisiert werden; Bildungseinrichtungen und kirchliche Organisationen; Betroffene und Angehörige, die in Planungsprozesse einbezogen werden müssen; Arbeitgeber, die Menschen eine Chance geben und mit gelungenen Beispielen zur Nachahmung motivieren und  ‚Experten aus Erfahrung’, die in die Arbeit einbezogen werden müssen.“ Und: “Andersartigkeit als Bereicherung verstehen”!

Diese Zielvorstellungen entsprechen haargenau den Orientierungspunkten, die uns 1977 leiteten beim Aufbau eines Sozialpsychiatrischen Dienstes in Bayern. Wir nannten es nicht Inklusion, die Absicht war aber die gleiche. Wir verabredeten damals mit dem Stadtentwicklungsreferenten, dass die verschiedensten städtischen Gruppen aufgefordert werden sollten sich für psychisch kranke Menschen zu öffnen. Das war der völlig falsche Ansatz, der nicht funktionieren konnte. Eine Zumutung – vor allem für die von vorne herein etikettierten Neuankömmlinge in den Gruppen! Im Laufe der Jahre erschien uns ein Ziel wie diese Inklusion zu undifferenziert. Denn – psychisch krank oder nicht – niemand kann einfach so überall oder irgendwo dazu gehören.

Heiner Keupp kritisiert, dass Inklusion psychisch kranke Menschen der freien Wildbahn unserer Leistungsgesellschaft ausliefere. http://www.dgsp-ev.de/fileadmin/dgsp/pdfs/Artikel_Soziale_Psychiatrie/Verworfenes_Leben__H._Keupp_.pdf
Ein solches Ziel allein – auch in guter Absicht positiv formuliert – kann nicht Intention der Behindertenrechtskonvention sein und wäre sinnlos. Es sollte stattdessen um einen entsprechend bestimmter Regeln strukturierten Vorgang der Inklusion Einzelner gehen.
Keupp fährt fort: “Die Normen für Anerkennung und Zugehörigkeit heißen »employability« [Beschäftigungsfähigkeit] und ökonomischer Nutzen.”
Auch das ist in der Allgemeinheit Unsinn. Inklusion kann ja nicht heißen, dass alle überall die gleichen Werte vertreten. Die Normen für Anerkennung und Zugehörigkeit variieren natürlich je nach sozialer Gruppierung. Und nachdem bekanntlich jeder im Prinzip von psychischer Erkrankung betroffen sein kann, geht es um eine riesige Vielzahl unterschiedlicher Menschen und ihre Vorlieben und Interessen.

Wir müssen uns von der Vorstellung befreien, psychisch kranke Menschen immer als ausgeschlossen zu sehen und dagegen anrennen zu müssen. Niemand will und kann überall dazu gehören. Von uns würde es keiner als “Exklusion” oder “Stigmatisierung” betrachten, wenn wir als Therapeuten nicht in einem Banker Club zugelassen sind.

Wir im Sozialpsychiatrischen Dienst bemühten uns damals, “Zugehörigkeit” aktiv herzustellen. Zugehörigkeit von psychisch kranken Menschen zu durchgehend an festen Zeitpunkten stattfindenden ziemlich homogenen Gruppen (hinsichtlich Bildung,  beruflicher Ausrichtung, sozioökonomischem Status, Familienstand etc.), an denen sie regelmäßig teilnehmen sollten, und wo sie im Laufe der Jahre Freunde und Bekannte finden konnten.
Diesen Prozess der Entwicklung von Zugehörigkeit als Unterstützungsangebot der Psychiatrie hatten wir genau geplant und fachlich korrekt durchgeführt. Der Sozialpsychiatrische Dienst bot dazu eine sehr große Zahl von Gruppen an, so dass jeder Gelegenheit hatte, sich eine passende auszusuchen und dort auf Gleichgesinnte treffen konnte. Sogar “Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und mit herausfordernden Verhaltensweisen, deren sozial nicht als angemessen empfundene Lebensführung auf klare Ablehnung stößt“, ebenso wie nicht besonders kontaktfreudige Psychotiker können auf diese Art “Freunde” finden, denn diese Gruppen entwickeln eine bemerkenswerte Toleranz und tun einiges für ihren Zusammenhalt.

Dass diese Gleichgesinnten in den Gruppen eines Sozialpsychiatrischen Dienstes häufig vergleichbare psychische Probleme haben, liegt nahe und muss nicht verwundern. Man versteht sich daraufhin gut und kann sich gegenseitig unterstützen.Diese Gruppen deshalb aber als kleine “Ghettos” im ambulanten Bereich zu bezeichnen, verabsolutiert die Kennzeichnung “psychisch krank” im Sinne einer schweren Stigmatisierung.
Diese Gruppen und Bekanntschaften lösten sich in vielen Fällen ab vom Ursprungsort Sozialpsychiatrie und bestehen zum Teil bis heute weiter – noch 30 bis 40 Jahre danach. Eine praxisorientierte Beschreibung diese Art von Inklusion haben wir in hilfe Blätter von EREPRO Ausgabe Nr. 12;  Mai 2007 angeboten.

Was meint Frau Degener genau mit “Einmischung der Zivilgesellschaft in den Umsetzungsprozess” der BRK”? Und Herr Conrad fragt zu Recht, “wie schwer ist es (…), Andersartigkeit (von Menschen  mit psychischen Erkrankungen) als Bereicherung zu verstehen”!
Grundsätzlich wird (fast) jeder “JA” zu diesen Sätzen sagen, aber auch “zu anstrengend beim gemütlich entspannten Zusammensein mit Freunden und Bekannten nach Feierabend”. Klar.

Solche Forderungen und moralische Appelle sind gut. Realisierbare, konkrete Angebote zur Teilnahme und Zugehörigkeit in Gruppen Gleichgesinnter aber sind besser für Menschen mit psychischen Problemen.
Ch. Kruse