Archiv für den Monat: Februar 2015

Frage nach versteckter Schuld der Diakonie.

Was für ein reißerischer Titel – Schuld der Diakonie? Abwegig – im Gegenteil, dort sind bekanntlich Menschen mit Hilfebedarf besonders gut aufgehoben.
Ganz so abwegig ist die Frage aber vielleicht doch nicht. Vor weniger als 80 Jahren widersetzten sich kirchliche Behinderteneinrichtungen der staatlich verordneten Sterilisierung und Ermordung ihrer Schutzbefohlenen nicht entschieden genug. Daraufhin wurden sehr viele hilfsbedürftige Menschen dort sterilisiert oder sogar dem sicheren Tod ausgeliefert.

Damals wie heute genossen kirchliche diakonische Einrichtungen besonderes Vertrauen bei der Bevölkerung. Zur Zeit des Nationalsozialismus erwies sich  das aber als ein gefährlicher Irrtum.
Schuld war nicht in erster Linie das persönliche Versagen einzelner Mitarbeiter der kirchlichen Dienste. Denn man stützte sich auf eine Weisung, eine Grundsatz-Orientierung der Evangelisch-lutherischen Kirche in Deutschland, deren Gültigkeit bzw. Ungültigkeit bis heute nicht abschließend geklärt ist.

In einem EREPRO-Artikel zur Ausstellung über NS-Euthanasie 2014 (1) wurde diese “Richtlinie” kurz erwähnt. Einige Leser sind darüber gestolpert und haben Klärungsbedarf. Den können wir hier leider auch nicht befriedigen, wir können hier nur die Forderung nach Klärung verstärken.

Es geht um die sogenannte “Zwei Reiche Lehre”.
Zitat aus unserem Artikel:

„Er (Rektor LAUERER von Neuendettelsau, die Red.) weiß, dass es vor Gott kein ‚lebensunwertes Leben’ gibt, schreibt aber 1939: ‚Wir Lutheraner können nicht anders, als grundsätzlich bejahend zum Staat, zu unserem Staat stehen (hervorgehoben von EREPRO). Von diesem Standpunkt aus haben wir kein Recht es zu beanstanden, wenn der Staat die Tatsache minderwertigen Lebens konstatiert und dann auch handelt.’ Diese Haltung erlaubt es, dass 1941 aus den Neuendettelsauer Anstalten von 2‘137 Bewohnern 1‘911 abtransportiert werden.” (2)

Es ist nicht zu fassen:
Sind/waren die Forderungen von nationalsozialistischen, unmenschlichen Politikern und Ärzten nach Tötung “unwerten Lebens” für Lutheraner gültiger als die Aussage des Christentums, dass es kein lebensunwertes Leben geben kann? Welche Geltung kommt dann dem 5ten Gebot “Du sollst nicht töten” noch zu? 

Wir haben in den 1990er Jahren mit dem Sohn des in der NS-Zeit verantwortlichen Leiters der Pflegeabteilung Neuendettelsau Pfarrer Ratz, damals ebenfalls dortiger Pfarrer, über die Verantwortung seines Vaters für die Auslieferung zur Tötung von mehr als tausend BewohnerInnen der Neuendettelsauer Anstalt gesprochen. Pfarrer Ratz jun. hat sich – genau wie sein Vater auf diesen Grundsatz berufen:
Man könne als Christ nicht anders als die Befehle (auch) des (nationalsozialistischen) Staates auszuführen.
Die Thematik dieser sog. Zwei-Reiche(/Regimenter)-Lehre geht zurück auf eine Diskussion, die seit der Reformation, der Zeit Martin Luthers, über die Beziehung zwischen Kirche und Staat geführt wird. Inhaltlich (für Nicht-Theologen) ein verwirrendes, historisches Puzzle. Wer sich etwas genauer darüber  informieren möchte, kann einiges nachlesen. (3)

Haben sich die lutherische Kirche und ihre Diakonie nach ihrem dadurch bedingten Tod bringenden Fehlverhalten deutlich von dieser “Lehre” distanziert und eine unmissverständliche Klarstellung für zukünftige Konflikte mit staatlichen Vorgaben erarbeitet – zur Orientierung für “richtiges” Verhalten kirchlicher Mitarbeiter in diesem Tendenzbetrieb?
Nach einer Recherche im Internet haben wir zunächst gelernt, dass diese Unterordnung unter den Staat nicht für alle Christen galt/gilt. Karl Barth, der reformierte Schweizer Theologe hatte sich anders geäußert, er fordert, “den Staat daran zu messen, inwieweit er seiner Aufgabe, durch Frieden und Recht in der menschlichen Gemeinschaft auf Christus hinzuführen, gerecht wird.”(4)

In nationalsozialistischen Publikationen wurde seinerzeit dieser Standpunkt der lutherischen Kirche gerne aufgegriffen. Wir zitieren hier ausführlich aus der Publikation “Schulungsbrief, Staat und Kirchen im 19. Jahrhundert” von Gauleiter Schmidt, Leiter des Hauptschulamtes der NSDAP (5):

“Die protestantische Staatsauffassung ist nicht einheitlich. Nach L u t h e r hat die weltliche Obrigkeit göttliche Autorität, da in der Obrigkeit Gott gebietend und richtend dem Menschen gegenüber wirkt. Dabei ist es nicht nötig, dass diese Obrigkeit ihre Legitimität nachweist, um Obrigkeit sein zu können. ‘Es liegt Gott nichts daran, wo ein Reich herkommt, er will’s dennoch regiert haben!’ Das ist Luthers patriarchalische Auffassung von der Obrigkeit. Sie gehört in den ‘Vatersstand’ und soll daher ein ‘väterlich Herz gegen die Ihren tragen’. Da die Obrigkeit unmittelbar von Gott um der Sünde willen gesetzt ist und ihm unmittelbar untersteht, darf sich ihr gegenüber niemand außer Gott allein als Richter aufschwingen. Empörung gegen die Obrigkeit, Revolution würde ein Eingriff in die Richtergewalt Gottes sein. Diese Gehorsamspflicht gilt daher auch dann, wenn die Obrigkeit Unrecht tut. Die Obrigkeit bleibt dessen ungeachtet für Luther dennoch anzuerkennen, auch dann, wenn sie etwas zu tun befiehlt, was Sünde wider Gott ist. In diesem Falle darf ihr der Gehorsam v e r w e i g e r t werden, ohne jedoch a k t i v e n Widerstand zu leisten. Man muss dann aber auch bereit sein, die Folgen des Ungehorsams zu tragen, d. h. die Strafe der Obrigkeit zu erdulden, falls man es nicht vorzieht, auszuwandern. Selbst einer Obrigkeit, die Land und Volk zugrundegerichtet, muss gehorcht werden; sie muss erlitten werden als eine Strafe Gottes, die wir dann eben angesichts unserer vielen Sünden längst und immer verdient hätten.

Die Kirche hat nach Luther k e i n e r l e i  i r d i s c h e  M a c h t a n s p r ü c h e  zu stellen. Ihre Aufgabe ist allein die Verkündigung des Wortes Gottes. Der Staat soll hierbei für eine ungehinderte Wortverkündigung die staatsrechtlichen Voraussetzungen schaffen. Mehr zu tun und mehr zu sein, steht nach Luther dem Staat nicht zu.

Wenn C a l v i n mit Luthers Staatsauffassung auch in vielem übereinstimmt, so begegnen uns bei ihm, also dem r e f o r m i e r t e n  P r o t e s t a n t i s m u s doch z w e i  b e d e u t s a m e Unterschiede:
Der eine Unterschied von Luther ist der, dass nach Calvin der Staat gegenüber der Kirche nicht selbständig ist. Weiterhin fordert Calvin Gehorsamsverweigerung gegenüber dem ‘tyrannischen’ Staat. Auf Grund dieser Anschauungen bedeutet der reformierte Protestantismus leicht eine Quelle des Konflikts mit der Staatsgewalt.”

Soweit der Gauleiter Schmidt in einer nationalsozialistischen Publikation.

Wie also steht die evangelisch-lutherische Kirche heute dazu?
Man liest von “Schulderklärungen” der evangelischen Kirche: die Stuttgarter von 1948, dazu gerechnet wird die Barmer Erklärung von 1934 (vor der NS-Euthanasie!), und das “Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes” von 1947 (mit einem Kommentar), das der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) jedoch nicht als seine Position übernahm. (6)
Die Stuttgarter Schulderklärung wurde 1948 abgegeben – auf massiven Druck aus dem Ausland, durch den Weltkirchenrat. Sie schafft u.E. wenig Klarheit und beschäftigt sich primär mit der Schuld an dem Krieg, der von Deutschland ausging.(7)
“Gravierendste Schwäche des Darmstädter Wortes ist die vollständige Ausblendung des Judenmordes, eine Leerstelle, die die Grenzen kirchlicher Schuldeingeständnisse im historischen Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit markiert.”(8) Auch die Mitwirkung kirchlicher Einrichtungen bei der Zwangssterilisation und Tötung behinderter Menschen wird in diesen kirchlichen Schulderklärungen mit keinem Wort erwähnt. Das ist ebenso befremdlich wie das Ausblenden des Holocausts.

Es scheint über die Beteiligung der lutherischen Kirche an der Zwangssterilisierung und Tötung behinderter Menschen bis heute keine öffentliche Debatte und Auseinandersetzung der Leitungen von Kirche und Diakonie zu geben, nachdem sich allerdings viele einzelne kirchliche Einrichtungen mit ihren Verfehlungen intensiv beschäftigt haben. Und natürlich gab es im christlich-kirchlichen Bereich nicht nur „Verfehlungen“. Über Hilfsbereitschaft und Einsatz christlicher Persönlichkeiten in der NS-Zeit wird oft berichtet. 

Auf der Homepage der Bundes-Diakonie heißt es unter “Geschichte”:

“Zu zentralen Herausforderungen für die Innere Mission wurden die Sterilisierungspolitik und die Vernichtung ‘lebensunwerten Lebens’. In der Folge des ‘Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’ (1934) wurden auch in diakonischen Einrichtungen zahlreiche Zwangssterilisationen durchgeführt. ‘Für den Zeitraum vom 01.01.1934 bis zum 30.06.1935 wies die evangelische Gesamtstatistik folgende Zahlen aus: In den Pflegeanstalten (total 32.401 Betten) erfolgten 3.317 Unfruchtbarmachungen. In den Krankenhäusern (total 37.516 Betten) betrug die Zahl 5.539. Das ergab im Zeitraum von eineinhalb Jahren die Gesamtziffer von 8.856 Sterilisationen.’  Insgesamt wurde in allen staatlichen und anderen Einrichtungen in den Jahren von 1934 bis 1939 etwa 350.000 Menschen die Fortpflanzungsfähigkeit geraubt.

Seit 1940 setzten systematische Euthanasie-/Krankenmord-Aktionen ein, denen auch Tausende geistig behinderter und psychisch kranker BewohnerInnen aus christlichen Einrichtungen bis 1945 zum Opfer fielen. Die Reaktionen und Verhaltensmuster innerhalb der Verbandsstruktur, sowie der Einrichtungen der Inneren Mission, wiesen eine erhebliche Bandbreite auf. Insofern kam es nicht zu einer einmütigen Haltung der Ablehnung oder gar einer konzertierten Protestaktion.”(9) 

Mehr nicht.
Uwe Kaminsky schreibt auf derselben Homepage:(10)

“Hier gilt die Feststellung Kurt Nowaks, dass das Problem nicht ein ‘ethisch-moralisches Versagen des Protestantismus an sich, sondern ein kirchlicher Verhaltensstil war, welcher die Eindeutigkeit der ethischen Grundentscheidung in der Praxis nicht durchzuhalten vermochte’. Die größte Eindeutigkeit der Ablehnung (der NS-Forderungen, d. A.) fand sich dann dort, wo keine direkte Konfrontation mit den Krankenmorden stattfand und keine institutionelle Verantwortung getragen werden musste. Dies spiegelte sich in den Beratungen und Beschlüssen der Bekenntnissynoden der Evangelischen Kirche der Altpreussischen Union in den Jahren 1940, 1941 und 1943 oder bei Stellungnahmen der ‘Theologischen Societät’ der Württembergischen Landeskirche unter Pfarrer Hermann Diem sowie bei einzelnen  Predigten von Pastoren, die nicht innerhalb der Inneren Mission tätig waren (z.B. Pfarrer Ernst Wilm aus Mennighüfen). Diese Stellungnahmen waren alle eindeutige und kompromisslose Ablehnungen der Krankenmorde. (…)

Der Präsident der Hauptgeschäftsstelle von Innerer Mission und Hilfswerk, Friedrich Münchmeyer, gab im Oktober 1960 eine jegliche Entschädigung von Zwangssterilisierten ablehnende Stellungnahme gegenüber dem Bundesfinanzministerium ab. Zugleich initiierte er einen neuen Eugenischen Arbeitskreis, der von 1959 bis 1968 tagte und sich intensiv mit der Frage der freiwilligen Sterilisation, der Abtreibung und der Meldepflicht für behinderte Kinder befasste. Erst in den 1980er Jahren wandelte sich die Haltung gegenüber den Opfern der Zwangssterilisation in Kirche und Diakonie grundsätzlich, und es wurde für eine Entschädigung dieser vergessenen Opfergruppe plädiert.”

Das alles wäre u.E. doch Grund genug zur öffentlichen Beschäftigung mit dieser Thematik – auch heute noch.

Die Berufsverbände der Psychiater (DGPPN) haben sich sehr spät (2014), die der Kinderärzte 2013 und der Gynäkologen und Chirurgen 1995 in aller Öffentlichkeit zu den Verbrechen vieler ihrer Mitglieder in der NS-Zeit bekannt.
Halten die zentralen Verbände von EKD und Diakonie bzw. Evangelischer Behindertenhilfe solche Bekenntnisse für überflüssig?
Warum äußert sich die Kirche öffentlich nur zu ihrer Schuld bei Kindesmisshandlungen in kirchlichen Heimen und Behinderteneinrichtungen (10a) der Nachkriegszeit, aber zu Zwangssterilisationen und Tötungen behinderter Menschen einige Jahre zuvor nicht?

In einem “Oldenburger Schuldbekenntnis” von 1945 heißt es “Wir haben uns abgewendet, wenn unserem Nächsten an Leib und Leben und an seiner Freiheit Schaden und Leid geschah. Darum erhob sich in unserem Land Gewalttat und Mord, wie es nun vor aller Welt offenbar ist.”
Der “Oldenburger Stachel” fragt dazu: “Auch dieser Formulierung fehlt es an Konkretisierung und dem erkennbaren Willen zur Umsetzung in die Tat. Denn was tat die Kirche für die Opfer des Naziterrors im Oldenburger Land, deren Zahl weit in die Tausende ging? Und in welchen Fällen bekannte sie ihr Stillhalten bei den Verbrechen gegen Menschlichkeit, Leib und Leben? Wo gar verlangte sie Untersuchungen oder setzte sie selbst in Gang?”(11)

Leitende Pfarrer haben in der NS-Zeit zwar protestiert, aber nicht in der Öffentlichkeit:
”… wenn Wurm oder andere evangelische Kirchenführer protestierten, es immer nur intern, auf dem Dienstweg geschah, daß sie also Briefe schrieben, die im Volk nie bekannt wurden. Es erfolgte auch kein einziges klärendes Kanzelwort. Auch die Bekennende Kirche konnte sich nicht entschließen: Auf der 9. Bekenntnissynode am 12. Oktober 1940 in Leipzig wurde lediglich beschlossen, ein theologisches Gutachten über die Euthanasie ausarbeiten zu lassen. (…) Vom mutigen Handeln einzelner Personen abgesehen blieben die Kirchen aber weitgehend stumm und nahmen die Euthanasie als unabwendbar hin. Ihre Haltung in dieser Frage darf als ein besonders dunkles Kapitel deutscher Kirchengeschichte betrachtet werden.“(12)

Die Rezeption Dietrich Bonhoeffers in der Nachkriegszeit und die  ablehnende Haltung der Kirche ihm gegenüber verweisen auf ihre problematische Einstellung zu einer politischen Betätigung von Christen überhaupt.(13) Sogar Bonhoeffer selbst sah ein “richtiges christliches Leben” als unvereinbar mit dem Widerstand gegen Hitler an. Auch nach dem Scheitern der nationalsozialistischen Regierung hat die evangelische Kirche lange gebraucht, diese Haltung zu revidieren.
Das kann natürlich nicht unabhängig von der allgemeinen politischen Situation in der damaligen BRD gesehen werden. So  lehnte man zwar eine politische Betätigung nicht generell ab, aber ein prinzipielles gesetzliches Recht auf Widerstand, als Recht jeden Bürgers gegenüber dem Staat war nicht konsensfähig.(14)

In einer von dem Bundesverband evangelischer Behinderteneinrichtungen (BeB) herausgegebenen Zeitschriftenreihe “Orientierung” gab es 1993/94 ein Heft “erniedrigt, ermordet, verbrannt, verscharrt”, das aber vergriffen und trotz vielfältiger Bemühungen nicht zu finden ist.

1997 erhebt eine psychiatrieerfahrene Frau, die selber die Zwangssterilisierung in Bethel erlitten hatte, Dorothea Zerchin-Buck, schwere Vorwürfe wegen des Schweigens der Kirchenleitungen über ihre Verbrechen in der NS-Zeit in einem Brief an den Bevollmächtigten der EKD, Herrn Dr. theol. Klaus Engelhardt, – auch wegen ausbleibender Wiedergutmachungen.(15)
2011 schreibt sie erneut einen offenen Brief – an den Ratsvorsitzenden der EKD Nicolaus Schneider: “Ihnen und dem Bethel-Vorstand möchte ich einen ebenso offenen Umgang mit der NS-Vergangenheit vorschlagen wie der Präsident der DGPPN Professor Dr. Frank Schneider ihn in seiner beeindruckenden Berliner Gedenkveranstaltung am 26. November 2010 für die Psychiatrie einleitete und dazu die dpa zur öffentlichen Verbreitung hinzuzog”.(16)

Klaus Dörner spricht bei einem “Kirchentagsdialog” 2005 mit Jugendlichen über die kirchlichen Verfehlungen: “die erste Versammlung seit 1945 überhaupt (…), die in bundesweiter Öffentlichkeit dieser ausgegrenzten verfolgten Gruppe gedenken will”, und forderte sie auf, besser als seine eigene Generation aus diesen Verbrechen zu lernen. Es gab zum Kirchentag in Hannover eine Gedenkveranstaltung und eine Begleitausstellung “Psychiatrie im Dritten Reich in Niedersachsen”.

Berichte über diese zaghaften Versuche und Aufforderungen zur Auseinandersetzung findet man nicht etwa auf kirchlichen Internetseiten, sondern beim Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen.(17)
Auch in den Denkschriften und Orientierungshilfen der EKD, die bis heute erschienen sind, haben wir nichts dazu gefunden, so erfreulich “modern” einige dieser Texte anmuten. Sie wenden sich beispielsweise gegen die “Genitalverstümmelung” (als ob die Kirche nicht im Glashaus säße!). (18)

Der BeB und der Diakonie Bundesverband haben sich dem sog. Kontaktgespräch Psychiatrie, ein Treffen 12 verschiedener Sozialverbände, angeschlossen  und 2012 deren Stellungnahme zur Behindertenrechtskonvention unterstützt.(19) Damit nimmt man eine behindertenfreundliche Position ein. Das Kontaktgespräch Psychiatrie hat im September 2013 das Begleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von “Euthanasie” und Zwangssterilisation gestaltet.

Die Orientierungshilfe der EKD zur Familie von 2013 ist in ihrer Akzeptanz der Vielfalt von Formen familiären Zusammenlebens menschenfreundlich formuliert. Das blieb in kirchlichen Kreisen nicht unumstritten. Die “Kommentare” zu dieser Familien-Orientierungshilfe dokumentieren dementsprechend eine große Bandbreite von Meinungen in der Kirche, die sich in weiten Teilen auch deutlich von dem Text der Orientierungshilfe unterscheiden.(20)

Der Göttinger Theologieprofessor Reiner Anselm ist skeptisch: “Protestantisches Engagement ist durch das Streben nach umfassender Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Inklusion gekennzeichnet. Differenzen, gar Hierarchien oder Ausschlüsse werden mit äußerster Skepsis betrachtet. Im Bemühen aber, möglichst keinen auszugrenzen und allen ihren Platz zu ermöglichen, kommt es zu einer so ungekannten ‘Fundamentalliberalisierung’ (Jürgen Habermas), in der nicht mehr Traditionen, Überzeugungen und vorgegebene Werturteile als Herausforderung und als Bedrohung der eigenen Freiheit wahrgenommen werden, sondern das Fehlen von Orientierungsmaßstäben, die unendlichen Möglichkeiten, aber auch die neuen Zwänge, sich zu entscheiden. Eine evangelische Ethik des Politischen wird die hier drohende neue Paradoxie in den Blick zu nehmen haben: Aus dem Bemühen umfassender Inklusion entsteht ein Kursverlust der Freiheit, der politisches Engagement überflüssig erscheinen und zugleich die Sehnsucht nach Orientierung wachsen lässt. Das darin liegende Bedürfnis gilt es aufzunehmen, ohne die gesellschaftliche Pluralisierung zurückdrehen zu wollen. Ein Spagat, der in den nächsten Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen dürfte.” (21)

Setzen wir dem eine positivere Äußerung aus den “Kommentaren” zur Familien-Orientierungshilfe der EKD entgegen: ”Wir könnten in der evangelischen Kirche den Weg bereiten: weg von der Integration, die Ausgrenzung voraussetzt, hin zur Inklusion; von der Wohlfahrt und Fürsorge zur Selbstbestimmung; vom Objekt zum Subjekt; von den Problemfällen der Gesellschaft zu gleichberechtigten Trägerinnen und Trägern der Menschenrechte. (…) Menschen sollen leben, wie es ihnen beliebt. Entscheidend sind für die Orientierungshilfe allerdings die Haltung und der Umgang miteinander in den jeweiligen Lebensformen. Sie fordert Liebe, Verlässlichkeit, Vertrauen, Fürsorge, Verantwortung. Ihren Kritikern und Kritikerinnen passt das nicht ins Feindbild.”

Soweit so gut.
Aber was geschieht mit Behinderten in kirchlichen Einrichtungen, wenn der Wind politisch mal wieder anders weht? Wird man dann auf die Zwei-Reiche-Lehre zurückgreifen können?

Dabei muss die Beschäftigung mit früheren Verfehlungen gar nicht so angstgeleitet sein. Christian Gaedt, als Leiter der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, in der auch NS-Meldelisten ausgefüllt worden waren, warnt nachdrücklich vor dem generell großen Risiko für die Psychiatrie missbraucht zu werden für fachfremde, auch politische Zwecke. Er fordert in einem Vortrag die Thematisierung damaliger diakonischer Positionen: “Sie wissen, dass diese Vorstellungen genau wie der Nationalsozialismus als weitgehend überwunden gelten”, und erklärt dann, “warum ist es trotzdem wichtig (ist), sich heute mit dieser Frage auseinanderzusetzen?“(22)
Heute brauchen wir keine Meldelisten mehr: es sei nur auf die Möglichkeit umfassender Datenerhebung durch die neue Gesundheitskarte hingewiesen. Die öffentliche Aufarbeitung von Zwangssterilisation und NS-Tötungen könnte zu dem dringend erforderlichen kritischen Bewusstsein über Datenschutz beitragen.
“Die Überzeugung, daß die Gesellschaft in der internationalen Öffentlichkeit besser dasteht, wenn sie sich vorbehaltlos mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, statt sie zu verschweigen, setzt sich erst in jüngster Zeit durch”, schreibt Carola Sachse 2001.(23)

Wir halten eine öffentliche Debatte für notwendig:

  • einen allgemein verständlichen Klärungsversuch des Verhältnisses der lutherischer Kirche zum Staat,
  • mit Diskussion über die Gültigkeit der “Zwei-Reiche-Lehre”
  • über die durchaus unterschiedlichen Vorstellungen vom Umgang mit behinderten Menschen, die sich damals hinter der „Staatstreue“ der kirchlich-diakonischen Mitarbeiter verbargen, und die sicher ähnlich bis heute fortbestehen – vor allem hinsichtlich Zwangssterilisation und Selbstbestimmung
  • und vielleicht sogar mit Aussagen der Kirchenleitung über ein Recht von Christen auf politischer Betätigung  und Widerstand
  • dabei wird das damalige Bemühen der Kirche um Neutralität kritisch hinterfragt werden müssen, ebenso wie die Meidung der Öffentlichkeit bei Protesten gegen das NS-Unrecht.

So kann der Wandlungsfähigkeit kirchlicher Positionen infolge des jeweiligen Zeitgeistes endlich etwas Substantielles entgegengesetzt werden. Die christliche Behindertenhilfe wird auf diese Weise glaubwürdiger und verlässlicher in der Menschlichkeit ihrer Einrichtungen.

Diese Debatte würde möglicherweise bewirken, dass Mitarbeiter in diakonischen Einrichtungen sich bewusster um Humanität bemühen, vor der Folie der real vor Augen stehenden furchtbaren Alternativen, nämlich wie man in der NS-Zeit mit behinderten Menschen umging: “Die Einsicht in Versagen und Schuld der Vergangenheit schärft das Gewissen”, so heißt es in anderem Zusammenhang in dem Leitbild der Diakonie.(25)
Humanes Verhalten würde somit nicht mehr als selbstverständlich unterstellt bei jedem, der sich “christlich” nennt.
Humanes Verhalten von Mitarbeitern würde vielleicht endlich auch als besondere Anstrengung anerkannt, um die man sich zu jedem Zeitpunkt neu bemühen muss, die zeitaufwändig zu erarbeiten und immer wieder zu hinterfragen ist.

Diese öffentliche Auseinandersetzung sollte dazu beitragen, die Abschottung diakonischer Einrichtungen weiter zu lockern und arbeitsrechtliche Nachteile aufzuheben.(26) Die Berufung der Diakonie auf die im Grundgesetz verankerte Autonomie der Kirchen – zusammen mit einer geforderten, aber unklaren christlichen Identität belasten nämlich die Mitarbeiter dieser Tendenzbetriebe erheblich.(27)
Es erstaunt immer wieder, dass die hier vorgeschlagene öffentliche Schuldanerkennung durch Diakonie und evangelische Behindertenhilfe zur Beteiligung an der NS-Euthanasie nicht häufiger thematisiert wird. Die Diakonie erfreut sich – so scheint es – immer noch in der Bevölkerung eines untadeligen Rufes: weil sie Erwartungen und Bedürfnissen der Bevölkerung nach einer besonderen Autorität – mit dem ganz kurzen Draht nach oben – nicht widerspricht?(28) Um so wichtiger, sich endlich ehrlich als fehlbar (und bei Gelegenheit gefährlich) zu outen.

In der Praxis der diakonischen Arbeit mit Menschen, die Unterstützungsbedarf haben,  gibt es heute sehr unterschiedliche Auffassungen bei den verantwortlichen Leitern der Diakonischen Werke vor Ort. Sie sind primär durch persönliche Wertorientierungen der jeweiligen Persönlichkeiten bestimmt. Da jedes lokale Diakonische Werk rechtlich unabhängig ist von der Kirche und von der Bundes-Diakonie, ist eine direkte Einflussnahme schwierig.  
Eine öffentliche Debatte über den Umgang mit Behinderung, der sich keiner entziehen kann, könnte dabei hilfreich sein Die Medien würden die Argumente bis in den letzten Winkel der Republik tragen: alle möglichen Positionen (auch die – und vielleicht sogar in erster Linie – aus der Zeit des Nationalsozialismus) zum Umgang mit Menschen mit Einschränkungen – besonders in ihren praktischen Konsequenzen – könnten allgemein bewusst werden und zur Diskussion stehen.

Der Verdacht, in der Diakonie werde “Gutmenschentum” geheuchelt, würde hinfällig. Der könnte allerdings aufkommen angesichts der Tatsache, dass sogar die Psychiatrieerfahrenen, die 2009 “8 Forderungen, wie mit der Erinnerung an die Opfer des systematischen ärztlichen Massenmordens von 1939 bis 1949 und den Tätern umgegangen werden sollte”(29) aufstellten, die kirchlichen Täter nicht einmal erwähnen.
Auch in der Wander-Ausstellung „erfasst, erfolgt, vernichtet“ im Jahr 2014 werden u.E. Kirchen und Diakonie geschont.(30) Bei dem neuen T4 Mahnmal zur “Euthanasie” in Berlin ist von kirchlich-diakonischem Versagen kaum die Rede.

Trotzdem und um so mehr: Die evangelisch-lutherische Kirche muss ihre häufig beschworene “Verantwortlichkeit” genauer erläutern, damit niemand in ihren Einrichtungen Angst haben muss. Immerhin erklärte sie, “es bestünde ‘nicht nur ein Recht, sondern sogar eine sittliche Pflicht zur Sterilisierung aus Nächstenliebe und der Verantwortung, die uns nicht nur für die gewordenen, sondern auch für die kommenden Geschlechter auferlegt ist.'” (31)

Das war in der NS-Zeit.
Im April 2015 geht es auf einer Tagung des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe wieder um “Verantwortung”.(32)
Ch. Kruse

bitte beachten Sie die Kurzinfo zur “Zwei Reiche Lehre” nach den Anmerkungen.

Anmerkungen
1
300 000 Menschen mit besonderen Belastungen getötet.

2 s. E. KLEE, Die SA Jesu Christi, a.a.O., S. 180 ff,
s. auch http://www.theologe.de/euthanasie.htm.
Andere Quellen sprechen von 1238 Getöteten. http://www.dasdenkmaldergrauenbusse.de/images/stories/NEUENDETTELSAU/infoschild_neuendettelsau_RZ.pdf
Zu dem unten erwähnte Abteilungsleiter Ratz s. auch der EREPRO-Artikel 
http://www.erepro.de/2014/05/12/300-000-menschen-mit-besonderen-belastungen-getotet/
s. Kurzinfo zur “Zwei Reiche Lehre” nach diesen Anmerkungen

3 Max W. Richardt, 2013, Abiturwissen Evangelische Religion: Kompetent evangelisch im Abitur
s. auch Kurzinfo „Zwei-Reiche(/Regimenter)-Lehre“ von A. Tuitjebült nach diesen Anmerkungen

4 In:  Max W. Richardt, 2013, a.a.O., S. 167
s. auch http://images.buch.de/leseproben/9783786343028.pdf

5 Herausgeber der Reichsorganisationsleiter der NSDAP, August 1937, 4. Jahrgang,  8. Folge, 1937 S. 312 “Staat und evangelische Kirche im neunzehnten Jahrhundert.”

6 “’Das Darmstädter Wort’ ist vor dem Hintergrund der sich 1947 abzeichnenden Restauration in Kirche und Gesellschaft und dem beginnenden Kalten Krieg zu sehen. Es steht in der Kontinuität zweier vorangegangene Schuldbekenntnisse des Bruderrats (Exekutivorgan und oberste Instanz der EKD, d. A.).  Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 wurde zur theologischen Grundlage für den Kampf gegen die Weltanschauung und die Einflussnahme des NS-Staates auf die Kirche; sie diente zugleich der Abgrenzung (der Bekennenden Kirche, der vorwiegend reformierte Christen angehörten, d.A.) gegenüber den staatstreuen ‘Deutschen Christen’. (Hauptverfasser sind Karl Barth und Hans-Joachim Iwand, d.A.)” Torben Fischer und Matthias Lorenz Hrsg., 2009, Lexikon der ‘Vergangenheitsbewältigung’ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 2009, S. 39

7 http://www.ekd.de/glauben/abc/stuttgarter_schulderklaerung.html

8 Torben Fischer und Matthias Lorenz Hrsg., 2009, Lexikon der ‘Vergangenheitsbewältigung’ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 2009, S. 40

9 http://www.diakonie.de/20-jahrhundert-9114.html

10 Kaminsky, Uwe, Eugenik, Zwangssterilisation und “Euthanasie”, o.J. http://www.diakonie.de/eugenik-zwangssterilisation-und-euthanasie-9226.html

10a s. TAZ 4.2.2014 Mittel aus Fond Heimerziehung West reichen nicht.

11 http://www.stachel.de/00.09/9LKH.html   

12 http://www.lpb-bw.de/publikationen/euthana/euthana19.htm

13 s. FR 7.4.2005 Karl Martin, Die Wendung des Christentums zum Zeitgenossen. Dietrich Bonhoeffer entschloss sich “kein Heiliger” zu werden, sondern dem NS Staat Widerstand zu leisten.

14 Das zeigt der Versuch des Staatsanwalts Fritz Bauer, der seit 1952 bis in die sechziger Jahre ein solches Widerstandsrecht einzuführen versuchte – zumindest ein passives.
s. FR 20.7.1998 Claudia Ahrens, Der 20. Juli kommt vor Gericht, Der Remer-Prozess und Fritz Bauers Kampf um eine neue politische Kultur in Deutschland.

15 Dorothea S. Buck-Zerchin, Brief an den Bevollmächtigten der EKD, Herrn Dr. theol. Klaus Engelhardt, 9.2.1997

16 http://www.bpe-online.de/. Lesen Sie hier den offenen Brief.

17 Rundbrief des Bundesverbandes der Psychiatrieerfahrenen 3/2005

18 http://www.ekd.de/EKD-Texte/42888.html

19 http://www.psychiatrie.de/fileadmin/redakteure/dgsp/Texte__Anmeldecoupons_als_PDF/Kontaktgespraech_Psychiatrie_Stellungnahme_zur_UN-Konvention.pdf

20 http://www.ekd.de/download/dokumentation_debatte_orientierungshilfe_ehe_familie.pdf

21 http://www.ekd.de/reformation-und-politik/reformation/staat_und_protestantismus.html

22 Geistige Behinderung und psychische Störungen, Vorlesung 1994/95, Medizinische Hochschule Hannover. S. 12.

23 Ärzte Zeitung, Interview, 7. Juni 2001, zitiert nach Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Hallervorden

24 http://www.diakonie.de/diakonie-in-der-ns-zeit-9224.html
zum Thema Selbstbestimmung s. hilfe Blätter von EREPRO Nr. 14, Wer kann selbstbestimmen? 

25 http://www.diakonie.de/media/Leitbild.pdf

26 s. Brüning, F., Anspruch und Wirklichkeit, SZ 25.10.2011, S. 35

27 s. Diakonie: Kirche – Sozialverband – Unternehmen. Korrespondenzblatt Nr. 3 März 2002

28 unsere Erfahrung nach Jahrzehnten diakonischer Arbeit

29 http://www.zwangspsychiatrie.de/?s=8+forderungen

30 s. http://www.erepro.de/2014/05/

31 “Der Wert des Menschen und die Bewertung menschlichen Lebens von 1914 bis 1934 – Welche Rolle spielt der Erste Weltkrieg?” – Susanne Doetz, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité- Universitätsmedizin Berlin
http://www.der-paritaetische.de/fachinfos/artikel/news/gedenkveranstaltung-psychiatrieverbaende/

32 “Verantwortung in der Region übernehmen – Soziale Psychiatrie in Zeiten von Umbrüchen.”
http://www.beb-ev.de/inhalt/verantwortung-in-der-region-uebernehmen/

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Kurzinfo zur Zwei Reiche(/Regimenter) Lehre

von A.Tuitjebült,Theologe

Luthers Welt- und Gesellschaftsbild ist mittelalterlich geprägt:

Gottes Reich und das Reich des Teufels (die Macht des Bösen) kämpfen gegeneinander und der Teufel versucht die Menschen, Gottes Geschöpfe, von ihrem Schöpfer abzubringen, so dass sie sich und ihre Schöpfung zerstören.

 In diesem dualistischen  Kampf verfügt Gott über zwei Regimenter:

1. Das geistliche Regiment Gottes
Es kämpft zum Schutz gegen die Macht des Bösen in geistlicher Hinsicht.
Seine Waffen:Verkündigung des Wortes, Evangelium (Kirche) und Gesetz Gottes.

2. Das weltliche Regiment Gottes
Es schützt gegen die Macht des Bösen in leiblicher Hinsicht und bewahrt vor Bedrohungen der äußeren Welt (staatliche Anordnungen der Obrigkeit sind genauso gottgewollt wie die kirchliche Verkündigung).

Beide Regimenter sind von Gott eingesetzt und streng zu trennen.

 

Luther reflektiert hiermit die früheren negativen Erfahrungen der Einheit von staatlicher und religiöser Macht. Für Luther war die Formulierung dieser beiden getrennten  Regimenter im Kampf gegen den Bösen eher unproblematisch, weil sich die damalige Obrigkeit, die Landesherren und Landesfürsten, zum Christ-Sein bekannten.

Es ist problematisch und wissenschaftlich unredlich, wenn heute diese, im damaligen historischen Kontext evtl. stringente Theorie, die späteren Veränderungen im „weltlichen Regiment“ ignoriert: 

  • den dem Christentum gegenüber feindlichen Staat
  • den demokratischen, weltanschaulich neutralen Staat
  • den Staat, der Menschenrechte verletzt


Karl Barth
(evangelisch-reformiert) sieht das Problem der Zwei Reiche(/Regimenter) Lehre darin, dass man nicht versäumen darf, das „weltliche Regiment“ daran zu messen, welchen Beitrag es bringt, die menschliche Gemeinschaft durch Vermittlung von Frieden und Recht  so zu gestalten, dass sie sich der „Königsherrschaft Christi“  annähert und so seinen Beitrag zur Erlösung und Befreiung der Menschen aus Zwängen bewirken kann.

In diesem Sinne hat die Kirche ein „Wächteramt“, wenn die Menschenwürde und die Menschenrechte massiv bedroht sind. (Vgl. Barmer Bekenntnis, 1934, u.a. initiiert von Karl Barth)
 

Vgl. Lit.: Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit. 1523
Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde. 1946

Ich wurde in der NS-Zeit zwangssterilisiert.

Eine Leserin stellte uns die Broschüre “Ich klage an” zur Verfügung, die vom Bund der “Euthanasie”-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. 1987 herausgegeben und 1997 ergänzt wurde. Sie enthält “Tatsachen- und Erlebnisberichte der ‘Euthanasie’-Geschädigten und Zwangssterilisierten in der Zeit des Nationalsozialismus. Alle Berichte beruhen auf Tatsachen, wie die Herausgeberin Klara Nowak versichert. 

Wir haben hier einen der Berichte (S. 18f) mit dem Titel “Schizophrenie” kopiert. 
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