Archiv für den Monat: Mai 2013

Eine Berufung für gescheiterte Menschen. G. Springmann

Ein Mensch, der psychisch krank wird, fällt auf.
Er kann sich seiner Umgebung nicht anpassen. Die Frage, ob eine psychische Erkrankung hirnorganisch bedingt ist, ist eindeutig geklärt. Jene Mängel und Defekte, die sich auch im sozialen Leben zeigen und dort zum Ausdruck kommen – in Familie, Beruf, in allen gesellschaftlichen Verrichtungen, besonders im Umgang mit anderen Menschen, versucht man zu beheben und ihnen abzuhelfen, indem man Medikamente verordnet, die das Leiden lindern sollen.

Psychische Krankheiten haben eine lange Entwicklungsgeschichte, die beim einzelnen Menschen von früh auf angelegt ist. Unter bestimmten Bedingungen kommt die Krankheit um Ausbruch, oft erst im Erwachsenenalter.
Ein Mensch ist immer ein Individuum, das sich von anderen Menschen in Ausdruck, Darstellungsweise, Intelligenz, Fähigkeiten, Talenten, Geben und Gebaren unterscheidet.
Da gibt es die temperamentvollen, beredsamen, sehr ausdrucksstarken Menschen, die sich gut mitteilen können. Man begreift sie als interessant und auch sehr gesellig, auf andere zugehend, mutig und draufgängerisch. Daneben gibt es die eher Schüchternen, manchmal langweilig wirkenden Menschen, die mit sich nichts anfangen können, und die sich in Gesellschaft sehr unbeholfen und schwerfällig bewegen. Die meisten dieser Menschen – ob sie nun verschlossen oder offen sind, zeichnen sich durch besondere Fähigkeiten aus, und sie können durchaus kreativ und  produktiv sein. Die Einen sind eben geduldig, langsam, beharrlich, zurückhaltend  und gelegentlich auch genau, die Anderen beweglich, effektiv, äußerlich erfolgreich und auffallender, anpackend, gestalterisch, genialisch und wirklich bewegend. Sie sind etwas spontaner.

Beide Typen können durchaus eine gewisse Faszination ausstrahlen und haben ihre Qualitäten.. Der Charakter des Menschen, seine Veranlagung, sagt nichts darüber aus, ob er sympathisch ist und bei anderen Menschen ankommt.

Es gibt Menschen, welchen man eine psychische Krankheit zuschreiben muss, vielleicht weil sie nicht so leistungsstark sind, unter Depressionen leiden, sich abschließen, unverständliche Taten begehen, weil sie in ihrem Verhalten fremdartig wirken: trotzdem muss man ihnen bescheinigen, dass sie nie im kriminellen Bereich aufgefallen sind.
Objektiv ist festzustellen, dass sie große Schwierigkeiten im Umgang mit der Umwelt haben. Leider ist der psychisch kranke Mensch, der nicht dem Durchschnitt der Bevölkerung entspricht, gewissen Vorurteilen ausgesetzt, die tief verwurzelt sind, die nicht langsam verschwinden, sondern im Gegenteil sich immer mehr vertiefen und in der Gesellschaft verbreiten.

Der “Normale” hat die Dinge ja im Griff und meistert das Leben, ohne ihn gäbe es nicht den “Fortschritt”, der in einer zunehmenden Verrohung der Gesellschaft besteht und sich darin zeigt, dass alles kälter, gefühlsärmer, brutaler, unbarmherziger, seelenloser wird, und in einem Kampf eines Jeden gegen Jeden endet. Der “Normale” braucht Schuldige, Opfer, Schwache, an denen er seinen Zorn, seine Wut auslassen kann. Sonst könnte er nicht überleben. Der “Normale”, der in seine Arbeit vernarrt ist, sieht nicht die Lösung, erkennt nicht den Hoffnungsschimmer am Horizont, der ihn aus seinem Irrweg erlösen könnte. Er ist auf seinen persönlichen, kurzsichtigen Vorteil bedacht.

Es gibt Leute, die dazu berufen sind, auf Hoffnungen, Tendenzen hinzuweisen, die aus der Misere führen könnten, Politiker, Künstler, Schriftsteller, Aufklärer – und auch die Funktion psychisch kranker Menschen, die gescheitert sind, könnte hier eine positive, verheißungsvolle Rolle spielen. Sofern diese bereit sind, ihre Negativ-Image zu verlassen, an sich zu arbeiten und Lehren aus ihrer schwierigen Situation zu ziehen, die nicht so verzweifelt ist, wie sie auf den ersten Blick aussieht.
Man muss ein neues Menschenbild gewinnen.

Heute, das hat auch die Psychologie erkannt, ist nur der aktive, handelnde, extrovertiert, lachende, positive, kooperative und flexible Mensch gefragt, der immer in Bewegung ist, der unkritisch sich durch nichts irritieren lässt, permanent produktiv alles energisch anpackt und  immer etwas leistet.
Dieser Mensch fällt nicht auf, er stellt den Normality-Typus von Mensch dar, an dem man nichts aussetzen kann, und den man nicht unterstützen und ermutigen muss, weil er keine Probleme bereitet, und weil er sich in den Gesamtbetrieb integriert.

Da muss sich jeder anpassen. Dabei hat der schwermütige Mensch, der nicht so schnell in Gang kommt, rätselhaft erscheint, ein bisschen unharmonisch und schwerfällig ist, vielleicht grübelnd, durchaus Nachteile zu befürchten, denn er ist nicht gefragt. Kein Standardtypus, nicht kontaktfreudig und aufgeschlossen, sondern eher widerspenstig – stört er in unserer Gesellschaft. Ich muss sagen, unter diesen verschlossenen Menschen, die sich abkapseln, gibt es sehr Gutmütige, Aufgeschlossene, die liebenswürdig und einnehmend sind, die man nicht einfach abschreiben sollte.
Unsere Gesellschaft ist eine Maschine, die seelenlos und herzlos nur auf das Funktionieren schaut, nicht auf das Wertvolle und Tragfähige, das diese Menschen oft auszeichnet, die zunehmend unter Beobachtung und Kontrolle geraten.
Denn man braucht auch das Tiefgründige, Substantielle – sonst bricht alles auseinander, es explodiert, wenn man nicht endlich zur Besinnung kommt und diesen Wahnsinn beseitigt, von dem nicht nur Glück und Zufriedenheit ausgeht, sondern auch unendliches Leid und eine Perspektiv- und Ziellosigkeit sondergleichen, die uns in den Untergang treiben kann.

Das wollte ich einmal sagen, und ich warne davor, dass der Volltrottel, den nichts aus der Bahn wirft, zur bestimmenden Figur wird. Diese Maschine, dieser Apparat, ist zynisch, und er wird nichts zur Lösung unserer Probleme beitragen.
Das Bild des Menschen ist immer komplex, umfassend und nicht ohne Ecken und Kanten – und keinesweg einseitig, konstruiert und imaginär.

Dankesbrief an A. Kurella

Den folgenden Brief und noch viele dieser Art bekam ich von einer Patientin, die ich zwei Mal begleiten durfte aus den Tiefen der Erkrankung bis hin zur Stabilität.
Wenn der Vorname weggelassen wird, erlaubt sie, den Brief zu veröffentlichen.
Sie ist eine herzensgute Frau und hatte bzw. hat ein schweres Leid zu tragen.
Jetzt kann sie wieder mit ihrer Katze Coco in ihrer Wohnung leben.
Sie hat meinen guten Rat angenommen und lässt sich jetzt häuslich betreuen.
Erst hatte sie diese Betreuung total abgelehnt.
Aber ich habe ihr immer wieder gesagt, dass sie durch diese Betreuung einen erneuten Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik verhindern kann. Sie hat mir vertraut, und ist mir unendlich dankbar.
Ich bin sehr stolz auf sie und wir bleiben in Verbindung.
A. Kurella

Liebe Angelika!

Erst mal liebe Grüße! Ich zähle schon die Tage, wann Du kommst, denn da geht die Sonne für mich auf. Es ist sehr schön einen Menschen zu haben, der mitfühlt, denn Du hast es ja selbst auch schon erlebt.

Die Tage hier sind sehr lang, doch die Zeit – wenn Du mich besuchst – vergeht im Flug. Vergelts Gott für alles.

Hoffe, Dir geht es gut, und Du hast nicht so viel Aufregungen wegen Deiner Tochter. Das sind schon große Sorgen, und sie hört leider auf niemand.

Nun grüße ich Dich und Deine Familie und besonders den goldigen Gugulu,

Deine …..

Abends wenn ich schlafen geh,
vierzehn Englein bei mir stehn.
Zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken,
Zwei zu meinem Haupte, zwei zu meinen Füßen,
Zwei, die mich decken zwei, die mich wecken,
zwei, die mich weisen ins himmlische Paradies. 
                                *                            
Schlägt Dir die Hoffnung fehl, nie fehle Dir das Hoffen,
ein Tor ist zugetan, doch tausend stehn noch offen,
                                *
Geduld ist ein Pflaster für alle Wunden.

“Wissen Sie, dass der Patient verwirrt ist?” von A. Kurella

Ich darf jetzt auch auf der geschlossenen Station Patienten besuchen.
Heute war ich dort zu Besuch bei einem jungen Mann, der aber spazieren war mit seiner Schwester. So setzte ich mich ins Raucherzimmer. Der Pfleger, der mir vor längerer Zeit mit einem Stationsverbot entgegen kam, ging auf mich zu mit den Worten: “Frau Kurella, wen besuchen Sie?“ Ich lächelte und nannte ihm den Namen. Seine Antwort „Alles klar“.
Ich mache nicht den Fehler, unfreundlich zu sein, aber – „meine Gedanken sind frei.“

Als ich nahe beim Stationszimmer stand, kam ein Patient , der zu einer Krankenschwester sagte, dass er gerne ein Bad nehmen würde, und diese sagte, sie würde ihm das Badezimmer aufsperren. Wunderbar!

Der Patient, den ich hier besuche, ist um die dreißig Jahre alt, und mit seiner Erlaubnis kann ich ganz aktuell über die Behandlung berichten. Ich nenne ihn Herrn X.
Herr X wurde vor einigen Wochen auf die geschlossene Station aufgenommen und, weil er mit der Behandlung nicht einverstanden war, wurde ein Richter vom Amtsgericht bestellt, Herr X bekam einen Betreuer und wurde mit Gerichtsbeschluss auf genannter Station festgesetzt.

Das ist so üblich, und dagegen kann man nichts sagen, denn das ärztliche Gutachten zeigt wohl, dass eine Behandlung notwendig ist, und der Patient keine Krankheitseinsicht hat.

Gestern habe ich Herrn X auf  dem Patiententelefon angerufen, und er sagte mir, dass ein Richter ihn am 19.3.2013 besuchte, und dass er nochmals per Gerichtsbeschluss auf der Geschlossenen verwahrt wird. Sein behandelnder Arzt findet, dass es notwendig sei.
Herr X gibt zu, dass er bei der Einweisung verwirrt bzw. krank war, aber sein Zustand hat sich gebessert, und er nimmt auch seine Medikamente ein.
Wenn ich mit ihm spreche, fällt mir nicht auf, dass er krank ist, aber sicher wurde er nicht als Gesunder aufgenommen.

Wenn ich Herrn X in der kommenden Woche besuche, will ich ihn  fragen, ob er einverstanden wäre, sich auf einer offenen Station behandeln zu lassen. Da kann man es besser aushalten, und man kann auch spazieren gehen, außerdem wird die Behandlung durch verschiedene Therapien begleitet – wie Beschäftigungstherapie, Sport und Gesprächstherapien.
Ich muss sehr vorsichtig sein mit meinen Ratschlägen, denn ich hatte ja schon mal Stationsverbot von dem behandelnden Arzt des Herrn X, Herrn Dr. Y., den ich allerdings persönlich nicht kenne.

Das Pflegepersonal der Station hatte mir früher manchmal gesagt: “Frau Kurella, Sie wissen schon, dass der Patient verwirrt ist?” Natürlich weiß ich das, aber von der besonders schlechten Behandlung, vor allem in der Fixierung, weiß ich auch, und durfte auch schon zusehen, und ich bin nicht verwirrt.
Die Patienten sind verwirrte, kranke MENSCHEN, das sollte man nie vergessen. Sie brauchen Hilfe, Zuwendung und Pflege. Medikamente sind nötig, aber das allein reicht nicht.
Auch Herr X wurde vom Pflegepersonal sehr schlecht behandelt, und er sagte:“ Mir wurde beim Fixieren sehr weh getan.“

Also geht alles weiter, obwohl ich den Chefarzt, den Herrn Professor, den Oberarzt dieser Station und die Pflegedienstleitung durch meine Briefe über die menschenunwürdige Behandlung informiert habe.
Aber ich gebe nicht auf, und ich schreibe nach meinen Besuchen das auf, was mir die Patienten berichten.
Von Vorteil ist, dass auch Herr Günther Brand von der Selbsthilfegruppe SAP als Besucher in die Klinik kommt  und auch eine Frau R.B.. Frau B. war für kurze Zeit mit mir Besucherin der geschlossenen Station. Seit ich von der SAP “gekündigt” wurde, habe ich telefonischen Kontakt mit ihr.
Sie erzählte mir vor kurzem, wie unfreundlich das Personal mit ihr ist. Frau B. ist Besucherin aus christlicher Nächstenliebe, sie war selbst nie psychisch krank. Von Patienten habe ich erfahren, dass Frau B. mit selbst gebackenem Kuchen und kleinen Geschenkenzu Besuch kommt, und dass sie eine herzensgute Frau ist. Das stimmt.

Auf der offenen Station und auf der Geschlossenen bin ich zur Zeit treue Besucherin. Die Patienten auf der zweiten geschlossenen Station besuche ich eher selten, obwohl ein Patient zu besuchen wäre. Ich warte aber erst mal ab, bis ich sicher sein kann, dass er mir meinen Besuch erlaubt.

Die Pfleger und Krankenschwestern lehnen uns Besucher meist ab, das stört mich zwar auch, aber ich besuche ja die Patienten und nicht das Pflegepersonal.